„Es ist erstaunlich, dass wir den Horror im Alltag übersehen, dass er uns verborgen bleibt, dass wir nicht in Grauen erstarren.

Wirken die Abwehrmechanismen so stark - die alltäglichen, pragmatischen Argumente, aber auch die philosophischen, die wir unter anderem bei Descartes und Thomas von Aquin finden?

Ist es vielleicht die typisch menschliche Furcht vor Erschütterungen, die gewohnheitsmäßige perzeptive Trägheit, der Mangel an Reflexion, die Bequemlichkeit der Ignoranz?

Es genügt uns, dass die Welt ist, wie sie ist. Doch unsere perzeptive Passivität hat eine moralische Dimension - sie verstetigt das Böse. Wenn wir uns dem Erkennen verweigern, werden wir zu Mitschuldigen. Die moralische Anstrengung ist also im Grunde eine kognitive - wir müssen auf neue, schmerzliche Weise  erkennen .“

 

 

Olga Tokarczuk, Übungen im Fremdsein. Essays und Reden, Kampa Verlag, Zürich 2021, Seite 56

 


Nachlese

Gastkommentar Kleine Zeitung
06.08.2023
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