Poesie verbindet Menschen über Grenzen und Kulturen hinweg. Sie fängt das Unsagbare ein, verleiht Gedanken Klang und schenkt Gefühlen Gestalt. Zum Welttag der Poesie (21. März) feiern wir die Kraft der Worte – Worte, die berühren, aufrütteln oder einfach still nachklingen. Die hier versammelten Gedichte laden ein, innezuhalten und der Sprache in ihrer schönsten Form zu begegnen.
Es sprach zum Mister Goodwill
Ein deutscher Emigrant:
„Gewiß, es bleibt das selbe,
sag ich nun land statt Land,
sag ich für Heimat homeland
und poem für Gedicht.
Gewiß, ich bin sehr happy:
Doch glücklich bin ich nicht.“
Mascha Kaléko, Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte, dtv Verlagsgesellschaft, München 16. Auflage 2015, Seite 80
Wenn wir nicht Kinder oder Greise werden
Saht ihr die Greise in den Türen stehen?
Und auf den Bänken sitzen vor den Zäunen,
wie sie die Stirnen in die Sonne drehen,
wie ihre Hände wunderlich erbräunen,
wenn sie in ihre fahlen Bärte tasten?
Es ist, als ob sie nichts erfassten
Von dir, vom Hunde oder von dem Haus.
Sie sehen über alles Nahe weit hinaus,
und was sie lächeln, mutet an wie Sage,
die wir verloren und einst finden werden.
Sie treiben, so wie Hirten ihre Herden
Vor sich hintreiben, ihrer Kindertage
gewachsnen Glanz in neue Heimat ein …
Wir werden niemals wo zu Hause sein,
wenn wir nicht Greise oder Kinder werden –
mag uns das Alter auch die Haare bleichen!
Wenn unsere Herzen nicht den Hirten gleichen,
so sind wir fremd im Himmel wie auf Erden.
Christine Lavant, Gedichte aus dem Nachlass, Wallstein Verlag, Göttingen 2017, Seite 92
Wie glücklich ist der Pessimist
Wie glücklich ist der Pessimist,
Wenn etwas schiefgegangen ist!
Und geht es aller Welt auch schlecht,
Ihm bleibt der Trost: Er hatte recht!
Ein Träger düstrer Unheilsbrillen,
Glaubt er nicht mal an „freien Willen“.
Doch gläubig sind die Optimisten,
Ob sie nun Moslems, Juden, Christen.
Und kommen sie einst alle heil
In Gottes Himmelreich,
Dann sagt der Optimiste: „Weil…“,
Der Pessimist: „Obgleich!“
Mascha Kaléko, Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte, Ausgewählt und herausgegebenvon Gisela Zoch-Westphal, dtv Verlagsgesellschaft, München, 16. Auflage 2015, Seite 112
Kleine Strophen von der Unsterblichkeit
Dauer, Zeit und Raum
Sind wie Brandungsschaum,
Der verweht, indes die Flut sich wendet –
Doch das kleinste Sein
Schließt ein Wesen ein,
Das von Anfang ist und niemals endet.
Der du dich besinnst,
Ob du einst verrinnst
Gleich dem Sand und gleich dem Regentropfen –
Denk, dass Meer und Land,
Wasser, Fels und Sand
Steter sind als deines Herzens Klopfen.
Nur was in dir brennt,
Was kein Wort benennt,
Dauert über der Vernichtung Flammen.
Wärst du nicht geweiht
Zur Unsterblichkeit –
Bräch die Schöpfung in sich selbst zusammen.
Carl Zuckmayer, Abschied und Wiederkehr. Gedichte, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997, Seite 208
Sei still …
Als ich der Mutter meinen Kummer klagte, Ich höre noch, wie sie dem Kinde sagte Mit einem Lächeln, wie ich’s nie gesehn - „Sei still, es wird vorübergehn.“
So hielt ich still. Und manches ging vorüber. Denn alles geht vorüber mit der Zeit: Das große Glück. Das Frösteln und das Fieber. Selbst ein Novembertag, ein noch so trüber. Beständig bleibt nur: Unbeständigkeit.
Als dann der große Zweifel an mir nagte, - Ich wußte schon, dass man es keinem klagte Und daß sogar die Freunde mißverstehn - So oft ich damals an mir selbst verzagte, War es die leise Stimme, die mir sagte: Sei still, es wird vorübergehn.
Was ist nicht alles schon dahingegangen Wie Schneegestöber und wie Windeswehn … Und dennoch hab ich jetzt erst angefangen, Den Dingen langsam auf den Grund zu gehn.
Wer nichts begehrt, der ist nicht zu berauben, Gespenster sind nur dort, wo wir sie glauben. Ich habe lange, lange nicht geklagt. Nichts tut das Leid dem, der „es tut nichts“ sagt. Sei der du bist. Mag kommen, was da will. Es geht an dir vorüber, bist du still.
Mascha Kaleko, Wir haben keine andere Zeit als diese. Gedichte über das Leben, ausgewählt und herausgegeben von Eva-Maria Prokop, dtv, München 2021, Seite 63-64