Nähe und Distanz

In der Psychotherapie versteht man unter Empathie die Fähigkeit, „mit den Augen eines anderen zu sehen und mit dem Herzen eines anderen zu fühlen“ (Alfred Adler). Dieses Einfühlungsvermögen ist nur zu erreichen, wenn der Analytiker für einige Zeit auf einen Teil seiner eigenen Identität verzichtet. Die Empathie ähnelt so dem Vorgang der „ernsthaften Täuschung“, die man erlebt, wenn einem ein Kunstwerk, eine Aufführung oder ein Werk der Dichtkunst bewegt: „Sie ist eine intime, nonverbale Form, Kontakt herzustellen“ (Greenson, 1960, S.391).

 

Damit die Empathie sich lohnt, so Greenson (ebd.), „sollte der Analytiker einen reichen Schatz persönlicher Lebenserfahrung haben, auf den er zurückgreifen kann, um den Patienten leichter zu verstehen. Dazu sollten gute Kenntnisse in Literatur, Dichtung, Theater, Märchen, Volksbräuchen und Spielen kommen. All diese Ingredienzien tragen zu einer lebhaften Vorstellungskraft und einem lebendigen Phantasieleben bei, die für die analytische Arbeit von unschätzbarem Wert sind. Die Welt der Illusionen des Menschen, seien es Theater, Musik, Kunst, Märchen oder Tagträume, hat es mit universellen Erlebnissen zu tun und verbindet die Menschheit. In diesen Medien sind wir einander näher als in unseren bewussten Tätigkeiten oder sozialen Institutionen.“
Die psychoanalytische Situation ist eine Beziehung, die in ihrer Eigenart nur paradox beschrieben werden kann; diese Beschreibung allerdings führt uns ins Zentrum unserer Fragestellung:
Der Analytiker muss in der psychoanalytischen Situation echt und natürlich sein, und sich deren „Künstlichkeit" und Professionalität bewusst bleiben. Dieses Paradox ist nicht etwa eine lästige Störung, die es in Kauf zu nehmen gilt. Es ist die notwendige Voraussetzung einer Beziehung, in der Übertragung bearbeitet und verändert werden soll, und macht den Kern der spezifischen Einstellung aus, die wir die psychoanalytische Haltung nennen:
Der Analytiker muss dem Patienten gegenüber offen, echt und natürlich, und gleichzeitig distanziert und neutral sein. Stone (...) hat die psychoanalytische Beziehung treffend als „Versagung in der Intimität“ und als „Zustand intimer Trennung" gekennzeichnet. Der Analytiker wendet sich dem Analysanden emotional und in exklusiver Weise zu. Er wird zur begehrten Person, welche die unbewussten Wünsche, Phantasien und Konflikte des Analysanden auf sich zieht. Gleichzeitig bleibt er Analytiker und nur Analytiker, wahrt er den Übertragungskonflikten gegenüber Distanz und Neutralität. Er nimmt Wunsch und Abwehr gleichermaßen auf und widersetzt sich ihnen. Beide Beziehungsaspekte – Zuwendung und Versagung – sind notwendig, um die Übertragungskonflikte in der psychoanalytischen Situation zu halten und durchzuarbeiten.
Auf den ersten Blick mag die psychoanalytische Haltung als die Quadratur des Kreises erscheinen. Aber so befremdlich und ohne Vorbild ist sie bei genauerem Hinsehen nicht. Jede Beziehung hat ihr je eigenes Verhältnis von Nähe und Distanz.
Was echt und natürlich ist, ist nicht absolut, sondern hängt von der individuellen Beziehung und der jeweiligen Situation ab. Was einmal echt ist, mag ein andermal ein Affront sein. In der psychoanalytischen Situation ist es natürlich und echt, die Beziehung selbst zu hinterfragen und zu deuten. In einer außeranalytischen Beziehung zu deuten ist hingegen bestenfalls befremdlich, meistens aggressiv, nicht selten sadistisch, die Deutung mögen so evident sein und so einfühlend daherkommen wie sie wollen.
„Es ist anmaßend, in einer gesellschaftlichen oder familiären Situation unaufgefordert als Analytiker aufzutreten. Doch es ist ein technischer Fehler, in der Beziehung zu einem analytischen Patienten etwas anderes als Analytiker sein zu wollen“ (Brenner).

 

Rückblick

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