Die Kraft der Vernunft zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit. Wer danach sucht, findet sie z.B. im Leben und Denken „herzenskluger“ Menschen wie Sokrates, Marc Aurel, Hildegard von Bingen und Paracelsus.
Junge Menschen aus den besten Häusern Athens haben sich um den Philosophen Sokrates versammelt, zunächst, weil es schick war, sich mit ihm zu zeigen und in seiner Nähe aufzutauchen. Der Mann war interessant, klug und obendrein den Stadtvätern ein Dorn im Auge; für gelangweilte Jugendliche die ideale Ikone des Protests gegen das Establishment. Sokrates aber verweigert sich dem verkopften Spiel von billiger Frage und kluger Antwort.
Klug und weise ist der, so Sokrates, der die Wahrheit in seinem Inneren sucht, dort lässt sie sich auch finden, überall sonst sucht man sie vergebens! Wer (nur) wissen will, um damit zu prahlen, dessen Weisheit reicht nicht in die Tiefe, bleibt lediglich „Besserwisserei“, die niemandem zu Herzen geht.
Der Weise, der weiß, dass er nichts weiß, aber immerhin das weiß, leidet darunter, wie viele Menschen nicht einmal das wissen. So lehrt Sokrates die Menschen, das, was sie wissen wollen, in sich selbst zu suchen und es mit seiner Hilfe aus sich heraus „freizuarbeiten“. Damit verordnet er seinen Zuhörern sozusagen einen „seelischen Osterputz“, der sie nach und nach ahnen lässt, dass sie schon lange nicht mehr oder überhaupt noch nie da unten waren, im Keller ihres Herzens, wo die alten Weine der Weisheit liegen, die nach und nach darauf warten, entdeckt und gehoben zu werden. Auch könnten sie dabei bemerken, dass sie schon lange nicht mehr oder vielleicht sogar überhaupt noch nie da oben waren unterm Dach, um dort, wo die Tauben nisten und sich für ihren Ausflug rüsten, Pläne zu schmieden für das, was vor ihnen liegt…
Die Meisterschaft des Sokrates besteht also nicht in erster Linie in geschliffenen Reden, sondern in der Klugheit des Herzens, die Zwiesprache mit dem eigenen Inneren zu halten versteht. Dem Sohn eines Bildhauers und einer Hebamme verdanken wir so den Gebrauch der Vernunft als „Hebammenkunst“ geleitet von der Überzeugung, dass die Wahrheit dem Menschen nicht „hineingesagt“, sondern „hebammengleich“ aus ihm gehoben oder gar einem Bildhauer vergleichbar aus ihm „herausgearbeitet“ werden muss.
Rund 550 Jahre nach Sokrates schreibt der Philosophenkaiser Marc Aurel in Carnuntum seinen zweiten Brief „an sich selbst“ und ermahnt sich, als wäre er bei Sokrates in die Schule gegangen: „Was zerstreuen dich die Außendinge? Nimm dir Zeit, etwas Gutes zu lernen, und lass dich nicht weiter wie ein Wind umhertrieben! Auch vor jener anderen Verwirrung hüte dich: denn es gibt auch Toren, die sich ihr ganzes Leben lang abmühen, aber kein Ziel vor Augen haben, auf das sie alle ihre Wünsche und Gedanken richten.“ Und: „Wer nicht mit aller Aufmerksamkeit den Bewegungen der eigenen Seele folgt, muss notwendig unglücklich werden.“ (Selbstbetrachtungen 2.,7-8)
Rund 1000 Jahre nach Marc Aurel schreibt die benediktinische Äbtissin, Dichterin, Komponistin und Universalgelehrte Hildegard von Bingen den Menschen Ähnliches ins Stammbuch. Sie begreift die Seele des Menschen als Ort der Symphonie, wo alle Kräfte, die uns miteinander weiterbringen, zusammenklingen:
„Wir müssen auf unsere Seele hören, wenn wir gesund werden wollen. Letztendlich sind wir hier, weil es kein Entrinnen vor uns selbst gibt. Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und im Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht. Solange er nicht zulässt, dass seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet durchschaut zu werden, kann er weder sich selbst noch andere erkennen. Er wird allein sein.“
Rund 400 Jahre nach Hildegard und immerhin 500 Jahre vor unserer Zeit redet auch Paracelsus seinen Zeitgenossen zeitlos aktuell ins Gewissen:
Wer glaubt, er müsse „abwechselnd nach Antwerpen, Venedig, Frankfurt und Brüssel rennen“, weil dort „das Heil der Welt“ liege, dem wolle er sagen, dass es nicht nötig ist, von Schwaben nach Alakuttn, wie das heutige Kalkutta damals hieß, zu rennen. Auch ist es nicht nötig, den Wein von Candia zu trinken. Bei aller Sehnsucht nach den fremden und fernen Gegenden, wie das im 16. Jahrhundert Mode geworden ist, sollten wir nicht vergessen, dass „das Märchen von Kalkutta und der Wein von Candia“ uns nicht mehr Freuden schenken können, als wir sie in unserem vertrauten Umkreis zu entdecken vermögen.
„Wenn das Herz im Menschen erwacht, regiert in ihm die Liebe. Er erkennt dann, dass Gott auch seine Wohnung, seinen Lebensraum, voller Freude erschaffen hat.“
HR
Dem Karsamstag gewidmet: Was ich glaube: „Die Kraft der Vernunft“ – Leopoldkapelle, Naturpark DIE WÜSTE, Mannersdorf 2016