Therapeutisches Leitmotiv

Klären des Ausgangspunktes: Wo stehe ich?

Der argentinische Psychotherapeut und Schriftsteller Jorge Bucay (*1949) stellt in seinem Buch "Geschichten zum Nachdenken" (Ammann Verlag, Zürich 2006, Seite 8 – 12) die Frage, ob es Wahrheiten gibt, die so felsenfest und unumstößlich sind wie geografische Begebenheiten? Solche Wahrheiten gibt es für ihn und sie sind ihm die wesentlichen Grundlagen seiner therapeutischen Arbeit.

Die erste dieser seiner Wahrheiten lautet: Was ist, das ist.Um aber zu wissen, dass „das, was ist, ist“, muss man zunächst einmal akzeptiert haben, dass die Geschehnisse, die Dinge, die Situationen eben so sind, wie sie sind.


Die Wirklichkeit ist nicht so, wie ich sie gerne hätte.

Sie ist nicht so, wie sie sein sollte.

Sie ist nicht so, wie man mir gesagt hat, dass sie sei.

Sie ist nicht so, wie sie einmal war.

Noch ist sie so, wie sie morgen sein wird.

Die Wirklichkeit um mich herum ist, wie sie ist.


Veränderung kann nur stattfinden, wenn wir uns der gegenwärtigen Situation bewusst sind. Meinen Weg kann ich nur von dort aus beginnen, wo ich gerade bin, und das bedeutet, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind.


Daraus leitet Bucay einen zweiten Schritt ab:


Ich bin nicht der, der ich sein möchte.

Noch der, der ich sein sollte.

Ich bin nicht der, den meine Mutter gern in mir sähe.

Und auch nicht der, der ich einmal war.

Ich bin der, der ich bin.


All unsere Neurosen beginnen, wenn wir versuchen, jemand zu sein, der wir nicht sind. In seinem Buch „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“ schreibt Bucay über die Selbstablehnung:

 

Alles begann an jenem grauen Tag,
an dem du aufhörtest, stolz
„Ich bin!“
zu sagen.
Und beschämt und ängstlich
senktest du den Kopf
und ändertest deine Worte und dein Handeln
gemäß dem Gedanken:
„Ich sollte sein.“


Und wenn es schon schwierig ist, zu akzeptieren, dass ich bin, wer ich bin, wie viel schwieriger mag es dann manchmal sein, anzunehmen:


Du bist, wer du bist.


Das heißt:


Du bist nicht der, den ich in dir suche.

Du bist nicht der, der du einmal warst.

Du bist nicht so, wie es mir passt.

Du bist nicht so, wie ich dich will.

Du bist, wie du bist.


Dies zu akzeptieren bedeutet, dich zu respektieren und nicht von dir zu verlangen, dass du dich änderst.


Voraussetzung dieser Grundhaltung ist
„wahre Liebe“, 
die Bucay definiert als
„die uneigennützige Aufgabe, Raum zu schaffen, 
damit der andere sein kann, wer er ist“.


Diese erste „Wahrheit“ in ihren drei Ausfaltungen ist der Anfang und das Prinzip (sowohl im Sinn von Ursprung wie auch von Grundlage) jeder erwachsenen Beziehung.
 

Der Abdruck der Texte von Jorge Bucay erfolgt mit freundlicher Genehmigung der S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Alle Rechte vorbehalten.

Rückblick

auf die Festspiele für die Seele 2024 in der Fotogalerie.