Vom Glück, ein guter Mensch zu sein

Was unsere Welt im Innersten zusammenhält

von Arnold Mettnitzer | 19.03.2021 | KLEINE ZEITUNG 

© Margit Krammer, Bildrecht Wien, www.margit-krammer.at

Fjodor Dostojewski erzählt in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ von einer Frau, die stirbt ohne in ihrem Leben auch nur eine einzige gute Tat vollbracht zu haben. Zur Strafe landet sie in einem Feuersee. Ihr Schutzengel aber denkt sich: „Vielleicht erinnere ich mich doch noch an eine gute Tat, von der ich berichten könnte?“ Und dann fällt ihm ein: „Sie hat in ihrem Garten eine Zwiebel herausgezogen und diese einer Bettlerin geschenkt.“ Darauf hört er eine Stimme, die zu ihm sagt: „Nimm diese Zwiebel, die ganze Pflanze, streck sie ihr hin, in den See, dass sie nach ihr fasse und sich an ihr festhalte, und wenn du sie an der Zwiebel aus dem See ziehen kannst, so soll sie gerettet sein; wenn die Pflanze aber reißt, muss die Frau bleiben, wo sie ist.“ Da eilt der Engel zu ihr, streckt ihr die Zwiebel entgegen und sagt: „Halt dich fest, dass ich dich herausziehe.“ Und behutsam zieht er, und zieht und fast hat er sie schon herausgezogen; als aber die übrigen im See sehen, dass die Frau herausgezogen wird, klammern sich alle an sie in der Hoffnung, dadurch auch aus dem Feuersee zu kommen. Die Frau aber stößt mit ihren Füßen nach den anderen und schreit: „Ich, ich werde herausgezogen, nicht ihr, es ist meine Zwiebel, nicht eure.“ Kaum hat sie das ausgesprochen, reißt die Pflanze entzwei. Und die Frau fällt zurück in den Feuersee. Ihr Engel aber steht weinend da und weiß nicht, wie er ihr noch helfen könnte.

 

Dostojewski, der tiefblickende Psychologe, beschreibt die politischen, sozialen und spirituellen Verhältnisse seiner Zeit; dabei interessiert ihn vor allem die menschliche Seele, der er in seinen Erzählungen nachspürt; und die Menschen sieht er dabei über den Tod hinaus miteinander verbunden und füreinander verantwortlich; deshalb kann ihnen zu guter Letzt auch kein Schutzengel die Entscheidung abnehmen, ob sie sich gemeinsam mit anderen retten lassen oder aber absonderliche Egoisten bleiben. „Die Menschen sind schlecht, sie denken an sich! Nur ich denk an mich“, so lautet dazu der Text eines Kanons, der augenzwinkernd davor zu warnen versucht, das Leben als „Krieg aller gegen alle“ misszuverstehen. Schon Paracelsus aber war davon überzeugt, dass die beste Arznei für den Menschen der Mensch ist und das beste Maß dieser Arznei in der Liebe besteht. Darum ist ein Mensch auch durch nichts schwerer zu kränken als dadurch, übergangen, übersehen oder gar zurückgewiesen und weggestoßen zu werden. Was das - um nur ein Beispiel zu nennen - für über 2000 Menschen auf Lesbos bedeutet, die dort mit positivem Asylbescheid festsitzen und sich im Stich gelassen fühlen, muss der Phantasie der Leserin und des Lesers überlassen bleiben …

Zur Schauspielerin Katharina Stemberger, die sich dafür engagiert, eine Rettungsbrücke zwischen den Familien in den Lagern in Griechenland und den Pfarren und Familien hier in Österreich zu schlagen, sagte diesbezüglich in Salzburg ein älterer Mann: „Ganz ehrlich, das ist eine Sauerei, die Leut‘ so im Stich zu lassen. Für alles hab ma Geld, aber da ein paar Familien aufzunehmen, des is doch keine Hexerei. Jedes Land ein paar und die Sache ist erledigt.“ Empört sich da nicht zu Recht jemand über uns Europäer? Haben wir tatsächlich Hilfesuchenden, die sich in letzter Verzweiflung an unsere Zwiebel klammern, nichts anderes zu sagen als: 

„Es ist unser Europa, nicht eures!“? 

 

Wir können nicht Nicht-Helfen

 

Einander zu helfen liegt in unseren Genen. Wie gesunde Menschen nicht Nicht-Kommunizieren können, so können sie auch im Grunde nicht Nicht-Helfen. Wer in diesem Zusammenhang das ihm in seiner Erziehung vielleicht allzu penetrant gepredigte Gebot der Nächstenliebe nicht mehr hören kann, darf hier wenigstens daran erinnert werden, dass das biblische Liebesgebot die Liebe zu sich selbst zur Voraussetzung hat. Wer sich selbst nicht mag, wie kann der andere mögen? Wer sich selbst nichts gönnt, wie kann der ein Gespür für die Bedürfnisse anderer entwickeln? 

Freiwilliges Helfen bis hin zum professionellen Hilfseinsatz kann nur in „sozialer Gleichwertigkeit“ geleistet werden. Nicht nur die Not, auch der bedingungslose Respekt vor dem Hilfesuchenden steht im Vordergrund. Eine von vielen Begründungen findet sich in der biblischen Erzählung vom vielleicht zu oft zitierten barmherzigen Samariter. Er ist ein Fremder, von dem wir nichts wissen, außer, dass er der Nächste seines Nächsten ist, dass er nicht anders kann als Mitgefühl zeigen und Barmherzigkeit üben. Der Wert eines Menschen misst sich zuallererst daran, in welchem Maße er zu Liebe, Mitgefühl und konkreter Tat fähig ist! 

 

Helfen hilft gegen die Bosheit

 

Wer sich ausschließlich nur um sich selbst kümmert, wird böse. Dostojewski nennt die Hauptfigur seiner Erzählung „ein altes Weib, ein böses, furchtbar böses Weib“. Abgesehen davon, dass sich diese Geschichte genauso auch von einem Mann erzählen ließe, ist gut zu verstehen, woher diese Bosheit kommt: Im Grunde genügt dazu schon, zu lange mit Menschen nichts zu tun haben zu wollen und Helfende zu belächeln oder sie als „Gutmenschen“ zu verspotten.

Ein erstes Kennzeichen guter Menschen hingegen besteht für mich darin, mich nicht daran erinnern zu können, sie jemals als böse Menschen erlebt zu haben. Doch weit schöner an ihnen ist hier heiteres Wesen; sie kommen nicht bedrückt und besorgt daher und geraten nicht in Versuchung, andere zum Objekt und Träger der eigenen Sorgen zu machen. Gute Menschen erkennt man nicht nur in dem, was sie tun, sondern auch und gerade an der Art, wie sie auf Menschen zugehen, mit ihnen reden. Ihr ganzes äußeres Wesen ist einladend. Und dann noch ihr Lächeln! Ihr Lachen! Dostojewski ist überzeugt davon, dass man einen Menschen am Lachen viel besser erkennen und verstehen kann als aus langwierigen psychologischen Untersuchungen.  

Helfende tragen die Zuversicht, mit der sie uns helfen, in ihrem Gesicht! Von weitem kann man es sehen, dass sie an das glauben, was sie tun und dabei den, dem sie helfen, im Blick haben! Unsere Augen sind das Leitorgan aller Kommunikation! In ihnen steht wortlos geschrieben: „Wir schaffen das!“ So berichtet der Postpilot Antoine de Saint Exupéry von einem Flugzeugabsturz in der Wüste und der tagelangen Ungewissheit, ob die Besatzung verdursten muss oder doch noch gefunden werden kann. Und dann erzählt er: „Als uns die Hilfstruppen fanden, kamen sie in großen Schritten auf uns zu, wobei sie die Wasserschläuche von weitem gut sichtbar schwenkten!“ Dankbar leuchtende Augen sind der erste Grund dafür, warum rund um die Hilfsbereitschaft so viel Zufriedenheit zu finden ist! So viel Glück! 

 

„Eine Seele von Mensch“

 

Österreich ist Gott sei Dank immer noch eine Großmacht des Helfens. Das aber garantieren nicht Staat, Caritas und Diakonie! Das garantieren ungezählte gute Menschen! Viele von ihnen nennt man wegen ihres stillen, steten, selbstverständlichen Daseins „eine Seele von Mensch“. Ein Glück, solche Menschen in der Nähe zu wissen! Ein Glück auch, sich von ihnen anstecken zu lassen, unermüdlich im Einsatz zu sein und keine Ruhe zu finden, bis uns im Blick auf die Not der Menschen in unserer Umgebung (Er-)Lösungen eingefallen sind! Wie Menschen dabei dankbar sind, wenn ihnen geholfen wird, sind Helfende dankbar, wenn sie helfen können. Dabei vermag keiner zu sagen, wer mehr davon hat! Wie in der Liebe! Als ein herzenskluger Mensch danach gefragt wird, was wichtiger ist, geliebt zu werden oder zu lieben, antwortet er mit der Gegenfrage: Mit welchem Lungenflügel atmest du? Mit dem rechten oder mit dem linken?

Nachlese

Kleine Zeitung
Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
20240214 Aschermittwoch.pdf
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