von Arnold Mettnitzer | 25.04.2021 | KLEINE ZEITUNG
Arnold Mettnitzer erinnert sich an seinen Lehrer, der in Rumänien geboren wurde, in Hollabrunn und Wien aufgewachsen ist, in der Stadt Sigmund Freuds zum „Beichtvater Österreichs“ wurde und in Kärnten gestorben ist.
Am 10. Juni 1991 in Wien beginne ich mit meiner Lehranalyse bei Erwin Ringel und damit die Ausbildung zum individualpsychologischen Psychotherapeuten. „Setzen Sie sich“, begrüßt mich der Herr Professor, „und fangen Sie an zu erzählen!“ Und wie nie zuvor in meinem Leben beginne ich zu erzählen. Erst Monate später wird mir die Tragweite dieser Begegnung bewusst: Eine Sternstunde und ein Wendepunkt, die entscheidende Wegkreuzung zur Mitte meines Lebens. Um das Glücksgefühl länger auskosten zu können, angekommen und angenommen zu sein, fahre ich nicht über die Südautobahn zurück nach Klagenfurt, sondern genieße die um 200 Kilometer längere „Fahrt ins Freie“ über Linz, Salzburg und Spittal an der Drau. Viele gratulieren mir damals dazu, „Ringels letzter Schüler“ zu sein, andere fragen mich, warum ich mich „ausgerechnet auf diesen verrückten Menschen“ einlasse.
1953, im Alter von 32 Jahren beschreibt Erwin Ringel „Das präsuizidale Syndrom“, seine erste wissenschaftliche Meisterleistung, bis heute ein Meilenstein in der Suizidprävention. Niemand stirbt, ist Ringel überzeugt, weil er nicht mehr leben will, sondern weil er unter den Umständen, in die er geraten ist, nicht mehr leben kann! Das damals gegründete europaweit erste Suizidverhütungszentrum besteht bis heute als Kriseninterventionszentrum der Stadt Wien und hilft in diesen Monaten vielen Menschen bei psychischen Belastungen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie.
Der leidenschaftliche Arzt und kunstsinnige Therapeut ist ein brillanter Redner, der es versteht, komplizierte seelische Vorgänge in markanten Bildern zu veranschaulichen und so zum „Psychiater der Nation“ wird: „Wer glaubt“, sagt er einmal, „eine Kobra dadurch aus seinem Wohnzimmer zu kriegen, dass er sie unter den Teppich kehrt, wird feststellen müssen, dass sie dort in aller Ruhe Eier legt und zur Unzeit als siebenköpfige Hydra wieder unter dem Teppich hervorkommt.“
Zur Mitte der 1980-er-Jahre unterzieht er „aus Liebe zu den Menschen“ in diesem Land „die österreichische Seele“ einer gründlichen Diagnose. In 10 großen Reden und ungezählten daraus folgenden Vorträgen löst Ringel damit auf dem Gebiet der Politik, der Medizin, der Kunst und der Religion zum Teil heftige Kontroversen aus. Dabei skizziert er eine „in Österreich ebenso wie in anderen Ländern“ vielfach schreckliche Welt, die Feindschaft leidenschaftlicher pflegt als Solidarität, Materielles an die Stelle von Gefühl und Seelischem setzt, Erfolg und Technik vergötzt, den Verwaltungsgeist als reine Versachlichung höher schätzt als kreative Ideen und „den Menschen dabei unter die Räder kommen lässt“.
Jede Art von Faschismus und Diktatur, die unter dem Deckmantel der Demokratie Menschen unterdrückt und missbraucht, ist Ringel zuwider; ebenso ein Arzt, der bloß nach Krankheiten sucht und dem Befund eines Menschen mehr Aufmerksamkeit schenkt als seinem Befinden; eine unpersönliche Durchuntersuchung ersetze ebenso wenig eine partnerschaftliche Arzt-Patienten-Beziehung wie Tests und Fragebögen in der Psychologie; nicht weniger deutlich rät er der Religion, die Pharisäer und die Schriftgelehrten aus dem Tempel zu vertreiben und wieder zu einem Glauben zu finden, der überzeugend und einladend von der Liebe Gottes zu den Menschen redet. Ich höre noch seine markante Stimme, mit der er in die bis zum letzten Platz gefüllte Brucknerhalle in Linz ruft: „Es gibt kein Verbrechen, das man in 2000 Jahren den Christen nicht vorwerfen dürfte!“ Und in den frenetisch darauffolgenden Applaus hinein ruft Ringel: „Aber, meine Damen und Herren, wir müssen genau sein, differenziert denken und uns fragen: Wo wäre diese Welt, wenn sich in ihr das Christentum nie ereignet hätte!?“
Als Psychosomatiker warnt Ringel vor einer Beschäftigung mit dem Körper, die auf die Seele vergisst und vor einer Beschäftigung mit der Seele, die auf den Körper vergisst. Beide Einseitigkeiten könnten nur in ein verkümmertes Dasein führen.
Zu Kärnten pflegt Ringel zeitlebens ein besonderes Verhältnis: vielleicht weil seine erste Freundin, wie er mir einmal stolz erzählt, eine Kärntnerin war, auf jeden Fall aber auch, weil er die Kärntner Slowenen liebt und sich in ungezählten Vorträgen leidenschaftlich für ihre Rechte einsetzt; auf die dabei erlebte zum Teil heftige Kritik ist er „stolz wie auf einen mir verliehenen Orden“; ganz sicher aber hat seine Vorliebe für Kärnten auch mit der „unbeschreiblichen Schönheit dieses Landes“ zu tun, mit den 1270 Seen, die Ringel faszinieren. Als ich ihm einmal beinahe zufällig verrate, dass die Kärntner einen kleinen See „Seele“ nennen, reibt er sich vor Freude die Hände und meint: „Jetzt wissen Sie, warum meine Frau und ich hier Urlaub machen müssen!“ Mit dieser Wahl reagiert Ringel damals auch ganz gezielt auf Mallorca als Urlaubsalternative und das geflügelte Wort von Bruno Kreisky: „Kärnten ist mir zu teuer!“ Ringels Bewunderung für den Reichtum der Kultur in diesem Land am Schnittpunkt von slawischer, romanischer und bajuwarischer Kultur führt dazu, dass er sich 1988, vier Jahre nach seinem über hunderttausend Mal verkauften Bestseller „Die österreichische Seele“ in einem eigenen Buch der „Kärntner Seele“ widmet; darin stellt Ringel den kulturellen Reichtum des Landes dem Kärnten des Villacher Faschings, des winterlichen Pistenzaubers und der sommerlichen Badewannenidylle gegenüber und entwirft so ein faszinierendes Psychogramm der Menschen in Österreichs südlichstem Bundesland; in damals noch kaum von jemandem wahrgenommener Ambivalenz bezeichnet Ringel die Kärntner als „Sizilianer Österreichs“ und scheut sich nicht, obwohl im Herzen selbst leidenschaftlicher Sozialdemokrat, die sozialdemokratisch regierten Kärntner als „Punschkrapferl“ zu bezeichnen: „Außen rot, innen braun und ständig unter Alkohol“.
Der Carinthische Sommer in Ossiach ist für Ringel jedes Jahr ein geradezu „paraliturgischer“ Hochgenuss; vor allem, wenn sein Freund Robert Holl Schubertlieder singt und zum Schluss Erwin Ringels Lieblingslied „Im Abendrot“ wiederholt! - „Ich kann mir nicht vorstellen“, sagt Ringel einmal, „wie man inniger beten könnte“:
Wie ich nicht vergessen kann, wo und wann ich Erwin Ringel zum ersten Mal begegnet bin, so auch nicht unsere letzte Begegnung in Bad Kleinkirchheim
am 27. Juli 1994, einen Tag vor seinem Tod; bei meinem Besuch sitzt er auf dem Balkon seines Hotelzimmers in der Abendsonne und summt sein Lieblingslied vor sich hin; besser als die letzte Zeile dieses Liedes kann ich nicht beschreiben, wie, wovon und wofür Erwin Ringel gelebt hat: „Könnt‘ ich klagen, könnt‘ ich zagen? / Irre sein an dir und mir? / Nein, ich will im Busen tragen / deinen Himmel schon allhier, / und dies Herz, eh es zusammenbricht, / trinkt noch Glut und schlürft noch Licht.“