von Arnold Mettnitzer | 27.11.2022 | KLEINE ZEITUNG
Bedenkt die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf. Denn jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir
gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe.
Röm 13, 11-12
Je älter wir werden, umso schlechter stünde es um die Chancen auf ein gutes Leben, meinen viele. Rund um meinen 70. Geburtstag vor ein paar Tagen musste ich immer wieder einmal an diese pessimistische Einschätzung denken und daran, dass auf den ersten Blick diesbezüglich auch die Bibel eine eher nüchterne Bilanz zieht: „Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin“ (Ps 90,10).
Die berührendste Zusage in diesen Tagen verdanke ich einer neugierig gebliebenen, hochbetagten und klugen Frau: „Arnold, das Schönste kommt noch!“ Und auf die Frage „Wann?“ gibt sie mir zur Antwort: „Frag nicht! Bleib neugierig! Versäume keine Gelegenheit, das vor Dir liegende Schöne zu sehen. Lass es nicht ungenützt an dir vorübergehen!“
Überzeugende Beispiele dafür gibt es genug: Annemarie Kury, die jetzt im Alter von 90 Jahren auf 190 Fahrten zurückblickt, die sie zum Beginn des Kroatienkrieges im November 1991 mit Hilfsgütern in die Krisengebiete startet, dadurch ungezählten Menschen Hoffnung schenkt und so zur „Mutter Teresa von Tuzla“ wird; oder die 80-jährige Alice Schwarzer, die unermüdlich vor einer „Vermännlichung der Frauen“ warnt und sich mit all ihrer Kraft für eine „Vermenschlichung der Gesellschaft“ einsetzt; oder die niederländische Jüdin Etty Hillesum (1914–1943), die im Oktober 1943 – noch nicht 30 Jahre alt – in Auschwitz ermordet wird und im Angesicht des Todes in ihren Tagebüchern der Grausamkeit ein Stückchen Liebe gegenüberzustellen vermag: „Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen.“
Arnold Mettnitzer