Gedanken für den Tag

An den Gräbern

Gräber sind Orte des Lebens. Gräber sind Stätten der Zwiesprache. An Gräbern wird spürbar, wer die Verstorbenen für uns waren und was uns mit ihnen über den Tod hinaus verbindet.

 

Ich besuche gerne Gräber. Die Botschaften, die mir von Grabsteinen mitgegeben werden, wirken oft lange nach und sind eine eigene Art von nachhaltiger Zwiesprache. Grabinschriften dokumentieren Lebendiges, das nicht begraben werden konnte….
Etwa der rätselhaft geheimnisvolle Vers auf dem Grabstein Rainer Maria Rilke’s auf der Südseite der Burgkirche in Raron, hoch über dem Rhonetal, in der Schweiz:

 

"O Rose, reiner Widerspruch, Lust, niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern"

Viele haben sich bemüht, zu verstehen, was das wohl bedeuten mag. Viel ist darüber geschrieben worden. Aber das Geheimnis der Rose mit ihren vielen Lidern ist dadurch weder erschöpft, noch erklärt… Nicht nur am Anfang, bis zum Ende seines Lebens bleibt der Mensch dem Menschen ein Geheimnis, ein geheimnisvoller Widerspruch.
In einem seiner Gedichte heißt es:

 

Du musst das Leben nicht verstehen,


dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
So wie ein Kind im Weitergehen
Von jedem Wehen
Sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

 

Am Wiener Zentralfriedhof befindet sich in der Reihe der Ehrengräber das Grab meines Lehrers Erwin Ringel. Ein einfacher Marmorblock unter einem liegenden Torso aus Bronze erinnert mit knappen Worten an den Erforscher der Österreichischen Seele. Unter dem Namenszug und den Jahreszahlen 1921 - 1994 steht der Satz von Else Lasker-Schüler: „Ein Mensch der Liebe kann nur auferstehn!“

 

Am Tag des Begräbnisses von Erwin Ringel wurde am offenen Grab ein Gedicht vorgetragen, das Peter Turrini seinem verstorbenen Freund gewidmet hatte:

 

Wenn ihr hört mein schweres Atmen,
mich so weiß da liegen seht,
hat der Tod mein altes Leben
schon verweht.

 

Wenn ihr ruft, ich soll doch bleiben,
schmerzerfüllt sei euer Herz,
ach, ich tanz mit wilden Sprüngen
himmelwärts.

 

Wenn ihr seht die Augen brechen,
sehe ich ein neues Licht,
meine Totenmaske
ist ein strahlendes Gesicht.

 

Wenn ihr klagt, ich sei verschieden,
atemlos und hin,
freu ich mich auf Kerzenmeere,
meinen flammenden Beginn.

 

Nichts wird euch an mich erinnern,
dort im Grabe liegt nur Schein,
und ich werd für alle Zeiten
ein Ereignis sein.

 

(Peter Turrini, Die Schlacht um Wien, Zweiter Akt)
Arnold Mettnitzer

 

Der Schriftsteller Julien Green, Mitglied der Académie Francaise, ist im Sommer 1998 97jährig in Paris gestorben. Seinem letzten Wunsch gemäß wurde er in Kärnten beigesetzt. Über seinem Grab in der Stadtpfarrkirche St. Egid in Klagenfurt befindet sich eine Tafel mit  einem Text, der als geistliches Testament des Schriftstellers verstanden werden darf:


Und wäre ich mutterseelenallein auf dieser Welt gewesen,
Gott hätte seinen einzigen Sohn herab gesandt,
damit Er gekreuzigt werde, damit er mich erlöse.
Eine befremdliche Anmaßung, wirst du sagen.
Und dennoch: Ein solcher Gedanke
muss schon so manchem Christgläubigen
durch den Kopf gegangen sein.


Aber wer, fragst du,
wäre dann über ihn zu Gericht gesessen,
hätte ihn geschlagen, ihn ans Kreuz geheftet?
Such‘ nicht lange:
Ich selber hätte das getan.
Alles hätte ich getan.
Jeder von uns kann dasselbe von sich behaupten.
So wie wir sind, und aus welchem Winkel der Welt
wir auch stammen mögen.


Hat man keinen Juden zur Hand,
damit er ihm ins Antlitz speie:
Ich bin bereit.
Braucht es einen römischen Beamten,
um Ihn zu verhöhnen, einen Soldaten,
um Ihn zu verspotten, einen Henker, um Ihn
ans Holz zu schlagen, auf dass Er dort hangen bliebe
bis ans Ende der Zeiten:
Immer wäre ich es selber,
ich wäre dazu imstande, all das zu verüben.


Und der Jünger, der Ihn liebte?
Das ist das Schmerzlichste an der Geschichte
und zugleich das große Geheimnis:
Du weißt es recht gut:
Auch diesen Jünger, den findest du in mir.


Julien Green, Tagebücher
November 1954 

Arnold Mettnitzer

 

In der Pfarrkirche Waidhofen an der Ybbs findet sich ein Grabstein mit folgender Aufschrift:
„De terra es et de terra vivis et in terram reverteris, certum est. Quia morieris:
Sed incertum, quando et quomodo aut ubi: qouniam ubique mors te expectat.
Tu quoque, si sapiens fueris ubique eam expectabis.”
S.Bern. L.Medi.


„Von der Erde bist und von der Erde lebst du und zur Erde kehrst du zurück, das ist sicher; weil du sterben wirst. Aber unsicher ist es, wann und wie und auch wo: weil der Tod dich überall erwartet. Du aber, wenn du weise bist, wirst ihn überall erwarten.“


Unsere Kinder und Jugendlichen lernen von den Erwachsenen, den Tod als Tabu zu betrachten. Ihre Erfahrung mit dem Tod könnte gespaltener nicht sein: Während der wirkliche Tod weitgehend totgeschwiegen wird, türmen sich allabendlich vor ihren Augen virtuelle Leichenberge pornographischer Todesfälle auf.
Da die Eltern nicht gerne über den Tod reden, kommt der Schule eine kompensatorische Aufgabe zu. Drei von vier befragten Gymnasiasten wünschen ausdrücklich die Behandlung des Themas in der Schule.
Sie verbinden damit die Erwartung, angemessen mit der Tatsache der Endlichkeit umgehen zu lernen und dieses Wissen auch bewältigen zu können. Zum Teil hoffen sie, ihre Todesangst zu reduzieren, andere erwarten positive Impulse für ihre Lebensplanung.
Die Kinderfrage, woher die Kinder kommen, haben wir in aller Freizügigkeit beantwortet.
Der Frage aber, wohin die Menschen gehen, wenn sie sich von dieser Welt verabschieden, versuchen wir mit „kunstvollen“ Argumenten auszuweichen…

 

Arnold Mettnitzer