Gedanken für den Tag | Juni 2016

Zum 90. Geburtstag von Ingeborg Bachmann

Ihre Sprache verdichtet und nimmt vorweg, deutet an und drückt aus:

das Außergewöhnliche wie das Alltägliche, beides versteht sie zu

überschreiten – hin zu einem utopischen Horizont, der „die alte

schimpfliche Ordnung“ hinter sich lässt. Die österreichische Dichterin

und Schriftstellerin Ingeborg Bachmann wurde vor 90 Jahren, am 25.

Juni 1926, in Klagenfurt geboren, sie starb 47jährig am 17. Oktober 1973

in Rom. Der Theologe und Psychotherapeut Arnold Mettnitzer, auch er

gebürtiger Kärntner, erzählt, was ihm ihre Dichtung bis heute bedeutet.

Am Saxophon begleitet werden die Gedanken von Edgar Unterkirchner,

der die einzelnen musikalischen Beiträge eigens für diese Sendung

komponiert hat.

„Lied überm Staub danach“

Man muss den Friedhof von Klagenfurt-Annabichl fast zur Gänze durchschreiten, um

vor ihrem Grab zu stehen. Ein grob behauener weißer Stein mit grauer Schrift verrät

den Namen und die Jahreszahlen: „Ingeborg Bachmann 1926 – 1973“

Geboren in Klagenfurt. Gestorben mit 47 Jahren in Rom. Zur Beerdigung

zurückgekehrt in ihre Heimatstadt, die sie, wenn sie von ihrer Jugend dort erzählt,

nicht beim Namen nennt, sondern nur mit dem Buchstaben K. versieht.

1974, ein Jahr nach ihrem Tod komme ich zum Studium der Theologie nach Rom.

In einer Art uneingestandenen Heimwehs greife ich immer wieder nach Bachmann-

Texten. Sie kreisen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit, um die Liebe und den Tod und

werden mir in ihrer geheimnisvollen Melancholie zur südlichen Begleitmelodie meiner

römischen Spaziergänge. Dabei mache ich mich auf die Suche nach den acht

Palazzi in schönster Lage, in denen die Bachmann in ihrer römischen Zeit 20 Jahre

lang gelebt hat.

Im letzten ihrer „Lieder auf der Flucht“ (XV) schreibt sie:

Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen,

die Zeit und die Zeit danach.

Wir haben keinen.

Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen.

Doch das Lied überm Staub danach

wird uns übersteigen.

(Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit – Anrufung des Großen Bären. Gedichte, R. Piper & Co. Verlag München 1982, 139)

Geblieben sind ihre Romane, Gedichte, Libretti und Hörspiele,

geblieben außerdem der nach ihr benannte Bachmannpreis.

Das alles neben dem Triumph der Liebe und des Todes:

Ein großes Lied „überm Staub danach“.

„Alles wahre Leben ist Begegnung“

Wann wäre es sinnvoller, über Begegnungs- und Beziehungsgeschichten zu reden,

wenn nicht jetzt, heute und hier. Und wann, wenn nicht heute, könnte uns besser

bewusst sein, was und wer – woher er auch kommen mag – ein Fremder ist!?

Wann könnte uns deutlicher vor Augen stehen, dass selbst die besten unserer

Freundinnen und Freunde ursprünglich auch für uns Fremde gewesen sind?

Vor 30 Jahren war ich verantwortlich für ein internationales Jugendfest in Klagenfurt.

Nicht die Anzahl von 10.000 Jugendlichen hatte damals die Politiker des Landes

nervös gemacht, sondern das Thema unserer Veranstaltung:

JEDER MENSCH IST AUSLÄNDER, FAST ÜBERALL!

In einer geglückten Begegnung vermag niemand zu sagen, wer der Schenkende und

wer der Beschenkte ist. Mit etwas Glück wird uns dabei der Fremde zum Nächsten,

der Ausländer zum Nachbarn, das Bundesamt für Fremdenwesen zur Asylstätte

menschlichen Leids!

In Ingeborg Bachmanns Gedicht HERBSTMANÖVER heißt es:

„In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte

und ihren Folgen, von Törichten und Toten,

von Vertriebenen, …

aber wenig, was mir behagt.

Warum auch? Vor dem Bettler, der mittags kommt,

schlag ich die Tür zu, denn es ist Frieden

und man kann sich den Anblick ersparen …

Laßt uns eine Reise tun! …

Laßt uns die unbeantworteten Briefe an das Gestern vergessen!

Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht,

mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause….“

 

(Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit. Anrufung des großen Bären. Gedichte, R. Piper & Co. Verlag, München 1982, S.17)

„Wenn endlich endlich kommt“

Auf der Biennale von Venedig (2001) zeigte die Schweizer Konzeptkünstlerin

Ingeborg Lüscher erstmals ihr Fußball-Video „Fusion“:

Spieler von Grashoppers Zürich und dem FC St. Gallen spielen gegeneinander,

gekleidet in italienische Maßanzüge, Business-Hemden, Krawatte und

Fußballschuhe.

Während des Spiels mit mehr oder weniger erfolgreich angewendeten Tricks und

Fouls werden laufend neue Strategien abgesprochen und wechselnde Koalitionen

gebildet. Trifft der Ball ins Netz, so kann er sich als prall gefüllter Geldkoffer, Handy

oder als ein anderes Requisit der Geschäftswelt entpuppen.

Das Spiel endet mit einem Eigentor und der Fusion der beiden Mannschaften.

Die Zuschauer durchschauen das Spiel nicht mehr. Keiner weiß, wer gewonnen hat.

Ob Fußball oder Wirtschaft, ob beruflicher oder privater Alltag:

Die spielerische Leichtigkeit verschwindet, wenn im Spiel der Kräfte

die Gier des Gewinnen-wollens das Kommando übernimmt.

Beim Fußball sprechen wir von groben Fouls,

in der Wirtschaft von Schmiergeld & Raubtierkapitalismus,

im persönlichen Alltag von gnadenloser Ellbogentechnik…

In ihrer Erzählung „Das dreißigste Jahr“ träumt Ingeborg Bachmann von einer Welt,

die noch keusch ist, die noch nicht geschändet worden ist, wo die Verbrecher noch

keinen Blutfleck gelassen haben:

„Wenn der neue Status geschaffen ist. Wenn die Nachfolge in keinem Geist mehr

angetreten wird. Wenn endlich endlich kommt. Dann. Dann spring noch einmal auf

und reiß die alte schimpfliche Ordnung ein. Dann sei anders, damit die Welt sich

verändert, damit sie die Richtung ändert, endlich! Dann, tritt du sie an!“

 

Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr. Erzählungen, DTV, 16. Auflage 1982, Seite 28-30 ( auch dtv großdruck Band 2533)

„Seht zu, dass ihr wach bleibt“

Ein Mensch bin ich! Ein Beziehungswesen!

Anderen helfen zu können, hilft mir! Andere tragen zu können, trägt mich!

Von zwei Brüdern wird erzählt, sie hätten miteinander den elterlichen Bauernhof

geerbt, gemeinsam bewirtschaftet und am Ende den Ertrag der Ernte geschwisterlich

geteilt. In der Nacht können beide nicht schlafen.

Der eine denkt:

„Mein Bruder hat eine große Familie während ich allein bin.

Er braucht mehr als ich zum Leben.

Ich will um Mitternacht etwas von meinen Garben in seine Scheune tragen…“

Der andere denkt:

„Mein Bruder ist allein. Im Alter hat er niemanden, der für ihn sorgt.

Um Mitternacht will ich etwas von meinen Garben in seine Scheune tragen…“

Und so begegnen einander die beiden Brüder kurz nach Mitternacht

- auf halbem Weg zwischen den Scheunen -

jeder in seinen Händen die Garben für den anderen…

Ingeborg Bachmanns Gedicht „Holz und Späne“

bringt diese Geschichte in sechs einfachen Worten auf den Punkt:

„Seht zu, dass ihr wach bleibt!“

Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit. Anrufung des großen Bären. Gedichte, R. Pieper & Co, München 1974, Seite 23

Und ihr Gedicht „Römisches Stadtbild“ endet mit den Worten:

„Keiner springt ab.

So gewiss ist’s, dass nur die Liebe

und einer den andern erhöht.“

 

Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit. Anrufung des großen Bären. Gedichte, R. Pieper & Co, München 1974, Seite 119

Amour fou

Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Der Zauber und die Misere ihrer zur Literatur

gewordenen „Amour fou“ führt die beiden in einen Kosmos der Gefühle, der um ein

Vielfaches komplizierter gewesen sein mag als derjenige sogenannter gewöhnlicher

Menschen. Aber von wem im Blick auf die Höhen und Tiefen seiner intimsten

Erfahrungen dürften wir denn behaupten, er wäre ein gewöhnlicher Mensch!?

Denn selbst das Alltäglichste entzieht sich dem Gewöhnlichen, wenn es als

Alltägliches benannt, ausgesprochen, ins Wort gebracht wird.

Und dann erst die Abgründe des Herzens und das Wetterleuchten der Gefühle!

Wie der Künstler, so ahnt auch der gewöhnliche Mensch, dass er das allermeiste,

das da in seinem Innersten vor sich geht, nicht versteht. Und in diesen seinen

Ahnungen ist er dem Schriftsteller weit näher als er es in seiner Sprache zu sagen

vermag. Denn auch die Schriftsteller schreiben ja nicht, weil sie etwas von Liebe

wissen, vielmehr, weil sie etwas von der Liebe wissen wollen, das sich ihnen nur

durch das Schreiben zeigt.

Der sogenannte „gewöhnliche Mensch“ wie auch der Künstler und mit ihm die Kunst,

sie alle müssen an Grenzen geraten. Gerade im Unvollendeten zeigt sich das

Vollendete! Deshalb gelingt es dem Menschen ja paradoxerweise immer wieder, an

den täglich erfahrbaren Grenzen seines banalen und doch kreativen Alltags Ewiges

zu erahnen und für einen Augenblick - wenn auch „nur ein Lächeln lang“ (Rilke) -

„erfüllte Zeit“ zu erleben!

In ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden sagt Ingeborg

Bachmann:

„In jedem Fall, auch im alltäglichsten von Liebe, steckt der Grenzfall, den wir, bei

näherem Zusehen, erblicken können … Denn bei allem, was wir tun, denken und

fühlen, möchten wir manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns

wach, die Grenzen zu überschreiten …“

 

Ingeborg Bachmann, Werke 4. Essays. Reden. Vermischte Schriften. Anhang, R. Piper Verlag, München1984, Seite 276

„dies ist das Ziel, von uns selbst nicht besessen zu sein“

In seiner unvollendeten Apologie „Les Pensees“ spricht der französische

Mathematiker, Literat und Philosoph Blaise Pascal (1623 – 1662) die Überzeugung

aus, dass alle Menschen als Originale auf die Welt kommen, die meisten von ihnen

aber als Kopien zu Grabe getragen werden. Rund 300 Jahre später tauchen

vergleichbare Gedanken bei Pablo Picasso (1881 – 1973), Joseph Beuys (1921 –

1986) und Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) auf.

Picasso erinnert sich:

„Als ich ein Kind war, sagte meine Mutter zu mir:

‚Wenn du Soldat werden möchtest, wirst du am Ende General.

Wenn du Mönch werden möchtest, wirst du am Ende Papst.‘

Aber ich wollte Maler werden und wurde am Ende Picasso!“

Joseph Beuys konzentriert sich auf den Anfang des menschlichen Lebens, sein

inneres Potential und das daraus fließende immer aktuelle Jetzt - und ist überzeugt

davon, dass jeder Mensch ein Künstler ist und zeitlebens ein Künstler bleibt.

Bei Ingeborg Bachmann artikuliert sich diese Kunst und das Originelle eines

Menschen darin, von sich selbst nicht besessen zu sein und in dem, was er tut,

jedes Ziel zu verfehlen:

Im „Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomine ‚Der Idiot‘“ heißt es:

„dies ist das Ziel, von uns selbst

nicht besessen zu sein

und jedes Ziel zu verfehlen;

mit einem törichten Ton,

immer demselben,

einem Lied nachzugehen,

das uns ein spätres verspricht.“

 

Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit. Anrufung des großen Bären. Gedichte, R. Pieper & Co, München 1974, Seite 52-53

„Wieder steigt Rauch auf“

Der Campo de‘ Fiori, der Blumenplatz im Zentrum von Rom, ist einer der

lebendigsten Plätze und wohl der beliebteste Marktplatz der Stadt. Seinen Charme

und seine Lebendigkeit verdankt er aber nicht, wie die vielen anderen Plätze den

bedeutenden Gebäuden, sondern bei den Römerinnen und Römern tief verwurzelten

Liebe zu unerschrockenen Querdenkern, die unter Einsatz ihres Lebens den Päpsten

ihre Stirn geboten haben.

In der Mitte des Platzes erinnert eine Statue an den italienischen Priester, Dichter,

Philosophen und Astronomen Giordano Bruno (1548 – 1600). Von der Inquisition der

Ketzerei und Magie bezichtigt, wird dieser hier am 17. Februar 1600 zum Tod auf

dem Scheiterhaufen verurteilt. 47 Jahre vorher erleiden der Reformator Giovanni

Mollio und sein Schüler Tisserano ebenfalls hier auf diesem Platz den Feuertod.

Als junger Dominikaner schon gerät Giordano in Konflikt mit seiner Ordensleitung,

weil er sich der Marienverehrung verweigert und alle Heiligenbilder aus seiner

Klosterzelle entfernt. Bereits mit 28 Jahren bringt er sich zum ersten Mal in den

Verdacht der Ketzerei, muss aus Neapel fliehen und sich in Rom dem Papst zu

Füßen werfen. Als dort aber bekannt wird, dass Bruno auf seiner Flucht aus dem

Kloster Schriften des Kirchenvaters Hieronymus in die Latrine geworfen hat, muss er

auch aus Rom fliehen.

Immer wieder ist das Denkmal Giordanos auf dem Campo de‘ Fiori Ziel vieler

Wallfahrer. Unter anderen die Mitglieder der Nationalen Vereinigung des Freien

Denkens. Die von Bruno vorgelebte Unerschrockenheit als „formidable Häresie und

gelebte Wahlfreiheit“ spornt sie an, selbst „Häretiker“ sein zu wollen!

In diesem Sinne ist auch Ingeborg Bachmann immer Häretikerin gewesen, sie, die ihr

Leben immer frei wählen wollte, Ingeborg Bachmann, die schreibt: „Ich sah auf dem

Campo dei Fiori, dass Giordano Bruno noch immer verbrannt wird. Jeden

Sonnabend tragen die Männer den Abfall, der geblieben ist, nachdem alles

verfeilscht wurde, vor seinen Augen zusammen und zünden den Haufen an.

Wieder steigt Rauch auf, und die Flammen drehen sich durch die Luft.“

„Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar“

Gleich neben dem lauten Campo dei Fiori in Rom liegt still und aristokratisch die

Piazza Farnese, dominiert vom Palazzo Farnese, der auf französischem Staatsgebiet

steht und dessen imposante Höhe dem Baldachin des Bernini im Römischen

Petersdom entspricht. An der Piazza Farnese hat der Nottetempo Verlag seinen Sitz.

Seine Verlagsleiterin ist Ginevra Bompiani, die Ingeborg Bachmann gut kannte. Ihr

Ehemann, der Philosoph Giorgio Agamben, schrieb das Vorwort für die italienische

Ausgabe von Ingeborg Bachmanns „Was ich in Rom sah und hörte“ (1955): „Ich

hörte“, schreibt sie dort, „dass es in der Welt mehr Zeit als Verstand gibt, aber dass

uns die Augen zum Sehen gegeben sind.“

DASS UNS DIE AUGEN ZUM SEHEN GEGEBEN SIND!

Vier Jahre später, im März 1959, taucht dieser Gedanke in ihrer berührenden

Dankesrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden wieder auf.

„So kann es auch nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein“, schreibt sie,

„den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über Ihn hinwegzutäuschen.

Er muss ihn, im Gegenteil, wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können,

wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime Schmerz

macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit.

Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen,

wehen, in dem der Schmerz fruchtbar wird: Mir sind die Augen aufgegangen. Wir

sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenommen

haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte

die Kunst zuwege bringen: dass uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen.“ …

und etwas später in dieser wunderbar einfühlsam-engagierten Dankesrede findet

sich jener viel zu oft und viel zu schnell verstandene Satz, dessen Schicksal darin

besteht, aus dem Zusammenhang gerissen zum geflügelten Wort geworden zu sein:

„Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar!“

Gedanken für den Tag | Juni 2016
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Nachlese

Kleine Zeitung
Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
20240214 Aschermittwoch.pdf
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