Gedanken für den Tag zum 40. Todestag von Christine Lavant

Ö1 06:56 | 27.05.2013

„HUNGERLIEDER ZWISCHEN BROT UND WEIN“

Vor vierzig Jahren, am 07. Juni 1973,
stirbt die Schriftstellerin Christine Habernig, geborene Thonhauser,
bekannt unter ihrem Künstlernamen Christine Lavant.

 „Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben“ – schreibt sie in einem Gedicht.
„Hungerlieder zwischen Brot und Wein“

(Christine Lavant, Die Bettlerschale. Gedichte, Otto Müller Verlag, Salzburg 1956, Seite 5)

Von Kindheit an mit Krankheit geschlagen,
von kaum jemandem wirklich verstanden
bleibt ihr, so scheint es,
als einzig verlässlicher Partner
nur ein verborgener Gott,
gegen dessen Schweigen sie ankämpft
mit der unerhörten Sprache
 einer vom Leben und Leiden Geplagten.

Sie ruft, bittet, klagt, stellt Fragen,
wartet, so scheint es,
vergeblich auf Antwort,
will aber,
wie der biblische Hiob,
durch alle Bedrängnis hindurch
nicht von Gott los,
sondern nur wissen,
was mit Gott los ist.

Zum Schluss ihres Gedichtes „Gottseibeiuns“ fragt sie:
 „O Gott, wo sind denn alle hingegangen?

Ich will die Hoffnung und den Kinderreim,
sogar das Elend und den Fleischerhund!

O Gott, mein Gott, wo bin ich denn daheim?“


(Spindel im Mond. Gedichte, Otto Müller Verlag, Salzburg 1995, 5. Auflage, Seite 42)


Ö1 06:56 | 28.05.2013

Am 07. Juni 1973, in ihrem 58-zigsten Lebensjahr, erliegt Christine Lavant
im Landeskrankenhaus Wolfsberg in Kärnten einem Schlaganfall.
Vierzig Jahre lang hatte sie die Höllen und Ängste endogener Depression durchlebt.

Bereits als Vierjährige beginnt ihre Leidensgeschichte:
Skrofeln und als Folge davon entstellende Narben am Hals,
ein chronisches Augenleiden, das sie fast erblinden lässt,
Mittelohreiterungen, die sie später fast taub sein lassen.
Dazu eine schwere Lungentuberkulose.

Mit 19 Jahren versucht sie aus diesen ständigen Bedrängnissen zu entfliehen.
Ihr Suizidversuch endet in der Psychiatrie.
Durch all das hindurch, so scheint es,
wächst in ihr ein feines Gespür für Kaum-Wahrnehmbares:
Stunden vor seinem Ausbruch spürt sie im Erdboden das kommende Gewitter. Lange bevor er niederfällt, riecht sie den Regen in der Luft.
Mit ihren halbblinden Augen sieht sie Farben,
die anderen verborgen bleiben.
Pflanzen und Tiere, die Tageszeiten, Sonne und Mond
sind ihre Geschwister, zu denen sie in ihren Gedichten spricht:

 

HILF MIR, SONNE, denn ich bin fast blind!
Nimm den Teller meiner linken Hand,
zeichne ein das hochgelobte Land
und die Wege, die noch gangbar sind
für Erblindete und für Ertaubte.
Alle Zeichen, denen ich einst glaubte,
sind schon lange in mir abgeblüht
und verdorrt samt Wurzelwerk und Samen;
keines hinterließ mir einen Namen,
dem ich folgen könnte durchs Gemüt,
das sehr steinig wurde und sehr steil.
Deine Wärme treibt jetzt einen Keil
in die Adern meiner linken Hand
bis zum Herzen, das ein wenig bebt.
Sonne – bist du sicher, dass es lebt?
Bist du sicher, dass ich dort das Land
und den Samen aller Namen finde,
während ich ertaube und erblinde?


(Spindel im Mond. Gedichte, Otto Müller Verlag, Salzburg 1995, 5. Auflage, Seite 28)

 

Ö1 06:56 | 29.05.2013

Wer die Gedichte von Christine Lavant in die Hand nimmt,
hält mit Herzblut geschriebene religiöse Urerfahrungen in seinen Händen.
Die Mystik ihrer Texte entspringt keinem literarischen Spiel,
sondern einer abgrundtiefen seelischen Erfahrung,
die aus Verzweiflung und Todesangst kommt.
Wie Hiob in der Bibel
schluckt sie die Not nicht hinunter,
sondern spricht sie aus.  
Ihre letzte Hoffnung bellt
wie ein vergessener Hund am andern Rand der Welt.
Ein mächtig-ohnmächtiger Aufschrei aus dunkler Nacht.
Ein einsames, isoliertes, gequältes Herz,
das unerhört nach allen Engeln ruft:

Wie pünktlich die Verzweiflung ist!
Zur selben Stunde Tag für Tag
erscheint sie ohne jede List
und züchtigt mich mit einem Schlag.

Dann stieben Funken um mich her,
mein Herz ruft alle Engel an,
der Himmel aber ist ein Meer
und Jesu treibt in einem Kahn
sehr weit am andern Rand der Welt,
Dort wo die Helfer alle sind,
Und meine letzte Hoffnung bellt
am Ufer durch den Gegenwind.

Ich spür dann, dass mich niemand hört,
und sammle still die Funken ein,
mein Herz - das knisternd mich beschwört -
wird nach und nach zum Feuerstein.

 

(Christine Lavant, Die Bettlerschale. Gedichte, Otto Müller Verlag, Salzburg 1956, Seite 9)

Das ist das Großartige in der Lyrik der Christine Lavant:
Was mit Verzweiflung beginnt,
lässt zu guter Letzt
Hoffnungsfunken sprühen …

 

Ö1 06:56 | 31.05.2013

In ihren Gedichten ist sie die ganze Welt samt Himmel und Hölle durchwandert.
In ihrem Leben hat Christine Lavant ihr Tal nicht verlassen und den Dialekt ihrer Umgebung gesprochen.
"Darf ihn nicht aufgeben“, sagt sie, „sonst geschieht mir ein Schaden, wirklich!"
Ihr einzig verlässlicher Rückhalt scheint zeitlebens
die Liebe zur nächsten Umgebung im Schutz des Dorfes
und seiner Menschen am Lavant-fluss zu sein.

Ihr Herz aber bleibt weit. Ihre feine, zärtliche Wahrnehmungsfähigkeit
kommt aus einem scharfen Verstand und aus ihrer immensen Belesenheit.
Einer ihrer Lieblingsautoren, den sie im Rucksack durchs Lavanttal trägt,
ist Rainer Maria Rilke.
Er spricht gegen jede Psychotherapie die Warnung aus,
dass man Dichtern erst recht die „Engel“ austreibe,
wenn man ihnen die „Teufel“ nehme.
Diese künstlerische Verteidigung der Krankheit weiß darum,
dass man die „süße Melancholie“ der Krankheit „melken“ kann.
Diese Melancholie, die wir heute „Depression“ nennen,
kann Christine Lavant noch „melken“.
Der bloße Misanthrop oder Hypochonder
kommt über die Grenze seines „An-sich-selber-Leidens“ nicht hinaus.
Sie aber hat ihr Leiden in die Wortbilder ihrer großen Lyrik umzusetzen vermocht.

 

(Vgl. Hans Weigl, Hrsgb., Christine Lavant. Und jeder Himmel schaut verschlossen zu,
Verlag Jungbrunnen, Wien München 1991, Seite 30-31)

In der Weite ihres Herzens gelten ihr so verschiedenste Geistesströmungen
wie etwa die Reinkarnationslehre oder die Philosophie Rudolf Steiners gleich viel.
Überall findet sie für sich stimmige Elemente.
Tief beeindruckt erzählt sie von ihrer einzigen Auslandsreise nach Istanbul
und den Eigenarten der muslimischen Welt.
Wohl daraus erklärt sich das orientalische Szenario in einigen ihrer Gedichte,
vor allem aber in ihrer Erzählung "Barúscha".
Entstanden sind diese jedoch alle vor der Reise
und aus Träumen glaubte die Dichterin zu wissen,
selbst türkische Vorfahren gehabt zu haben.

Ö1 06:56 | 01.06.2013

Als letztes der neun Geschwister lebt Christine Lavant bei den Eltern
bis zu deren beider Tod innerhalb von sechs Monaten.
Dem
wilden Treiben der anderen Kinder kaum gewachsen,
bleibt sie als Kind gern zurück in der einzigen Stube,
liest alles, was sie bekommen kann und
beginnt früh in der Obhut ihrer über alles geliebten Mutter zu schreiben.
Der plötzliche Tod beider Eltern stürzt sie in tiefe Depression.
Aber aus der dabei durchlebten Ohnmacht
wachsen kraftvolle,
von innen her mächtige Texte,
in denen sie auch als Leichnam noch
Klage führt und sich davor schützt,
billig vereinnahmt zu werden:

Das war mein Leben, Gott, vergiss das nicht!
ich werde niemals wieder eines haben -
du kannst’s verzögern, dass sie mich begraben
und dass mein Herz an diesem Kummer bricht;
doch seither bin und bleib ich eine Leiche.
Sag nicht, so viele hätten schon das gleiche
mit deiner Hilfe herrlich überstanden
und wären fromm und Heilige geworden.
Mein Leichnam tobt und will sich noch ermorden
und die dazu, die dich als Trost erfanden,
dort, wo du niemals wirklich wirksam bist.
An meinen Nerven zehrt ein Wolf und frisst -
bist das auch du? Und wühlt denn deine Hand
in meinem Häuflein glimmernden Verstands
so grob herum und hält mich überwach,
wenn alle schlafen? - Gott, sag das nicht nach,
sag keins der lauen Worte deiner Frommen!
Ich will ja nicht in ihren Himmel kommen!
Nur einmal noch - bevor sie mich begraben -
lass mich im Traum ein Fünklein Liebe haben.


(Christine Lavant, Die Bettlerschale. Gedichte, Otto Müller Verlag, Salzburg, 4. Auflage 1972, Seite 133)


Das ist das Großartige in der Lyrik der Christine Lavant:
Aus der Ohnmacht der Verzweiflung
wächst selbst in einem Leichnam noch
der Wunsch im Traum
nach einem „Fünklein Liebe“ … 

 


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Nachlese

Kleine Zeitung
Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
20240214 Aschermittwoch.pdf
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