Gedanken für den Tag

Wir leben, weil wir uns begeistern

Wer das Benediktinerstift Melk besucht, landet zum Abschluss seines Rundgangs in der imposanten Stiftskirche und von dort aus in der Sommersakristei:
Der streng symmetrisch gegliederte Bau aus dem beginnenden 18. Jahrhundert beherbergt hinter barocken Intarsienschränken einen für den Besucher aufs Erste nicht sichtbaren Schatz: Eine kostbare Doppelorgelanlage, ein Gesamtkunstwerk, das erst in Erscheinung tritt, wenn sich links und rechts vom Altar die Schränke öffnen und Musik zum Gottesdienst erklingt.

Burghard Ellegast, der Altabt des Stiftes, erklärte im Rahmen einer liturgischen Feier die Entstehung dieses ehrgeizigen Projektes. Er wäre mit dem Prior auf die Suche gegangen nach einem Orgelbauer, dem er die Herausforderung zutrauen konnte, einem barocken Raum ein Instrument einzubauen, das sich harmonisch ins Ganze einfügen lässt und den Gesamteindruck nicht stört.

In Heerde, in den Niederlanden, seien sie fündig geworden, in der Werkstatt der Gebrüder REIL. „Vom ersten Augenblick unserer Begegnung an wusste ich: Das ist der Mann, der den Auftrag bekommt!“ – erinnert sich der Altabt; entscheidend dafür sei gewesen die Leidenschaft für das Projekt, das Leuchten in den Augen seines Gesprächspartners und die Fähigkeit, alles aus einer Hand zu liefern: Das selbst geschlägerte und sorgsam getrocknete Holz, die in kostbarer Legierung gegossenen Pfeifen, die gedrehten Schrauben und die Kunst, das alles selbst zusammenzubauen: eine Orgelmanufaktur, wie es sie heute kaum mehr gibt.
Die Kulturgeschichte der Menschheit kann auch als eine Geschichte der Begeisterung gelesen werden. Die kleinen und großen Errungenschaften verdanken wir Menschen, die sich begeistern können und sich begeistern lassen und die in der Folge ihr gesamtes Leben dieser Begeisterung zur Verfügung stellen. 

 

In Georg Grabers „Sagen und Märchen aus Kärnten“ findet sich eine bemerkenswerte „Legende“:


„In Maria-Wörth wird der große Frauentag gefeiert. Schiffe kommen von allen Seiten herangefahren und bringen Andächtige aus nah und fern, die an dem Umgang teilnehmen wollen. Nur ein armer Halterbub drüben in Pritschitz muss zu Hause bleiben und die Kühe hüten, da er weder Schuhe noch Kleider besitzt, um an dem Feste teilnehmen zu können. Traurig steht er auf der Weide und sieht hin nach Maria-Wörth. Er sieht schon die Prozession ziehen und hört das Beten der Menge, das zu ihm herklingt wie „Platschiken-Platschaken“. Der Bub fühlt große Sehnsucht, auch hin zur Mutter Gottes zu kommen. Er eilt zum See, faltet in inniger Andacht die Hände und, das Geräusch des herklingenden Gebetes nachahmend, schreitet er aus und geht hin über das Wasser. In Maria-Wörth sehen Pfarrer und Andächtige das Kind über den See herkommen. Sie eilen zum Ufer, um das Wunder in der Nähe zu sehen. Da hören sie zu ihrem Erstaunen, wie das Kind in inniger Andacht „Platschiken-Platschaken“ betet…“


Wir kommen, wohin wir schauen, das, was wir mit der Leidenschaft unseres Herzens ansehen, dahinein werden wir verwandelt. Wunder sind täglich möglich - und wo eines auftritt, gerät die Welt in Erstaunen.
In einer Welt allerdings, die sich dem Außergewöhnlichen verschließt und Wunder milde belächelt droht das Lebendige auf der Strecke zu bleiben.


Die Legende vom Wörthersee weiß um eine Alternative: Ein Kind zeigt, was die Sehnsucht vermag; Beten hilft, Herzenswünsche geben Kraft, sie wirken Wunder und tragen uns, - gelegentlich sogar übers Wasser…

 

Ich verdanke diese Geschichte Antonio Fian, der im Rahmen des 16. Canetti-Symposions 2004 die Legende zum Ausgangspunkt seines Beitrages „Weiterverwandlung, ein Instrument des Machterhalts“ gewählt hatte: In John D. Patillo-Hess (Hg.). Die Verwandlung. 16. Canetti-Symposium. Wien: Löcker, S. 24-32. 

In Gmünd in Kärnten gibt es auf Initiative des Musikers und Musikpädagogen Manfred Tischitz „das haus des staunens“. Das ehemalige St. Antonius Spital, eines der ältesten Gebäude der malerischen Stadt wurde seit dem Mittelalter vom Spital über die Geburtenstation und Schulexpositur bis hin zum Altenwohnheim vielfach genutzt. In seiner heutigen Verwendung bietet es dem Besucher die Möglichkeit, in die Welt des Staunens, und damit in unerforschte Landschaften des eigenen Lebens und Erlebens einzutauchen.

Mit allen Sinnen kann die Besucherin/der Besucher sehen, spüren und staunen, erleben, erfahren, was es bedeutet, mit dem „Herzohr“ zu hören und Klänge mit den Händen zu fühlen. Mit etwas Glück können sie dabei verschüttete Dimensionen ihres Wesens wiederfinden und das „haus des staunens“ kindlicher und neugieriger verlassen.
Staunen heißt, so da sein, dass man ganz weg ist. Staunen führt den Menschen in neuer Weise zu sich und gleichzeitig über sich selbst hinaus. Nie ist man weniger vom Größenwahn bedroht und in Gefahr, sich mit Gott zu verwechseln als im Moment des Staunens. Darum sind solche Momente das Gegenteil von „Vorbeischauen“, wie wir sinnvollerweise sagen.
„Auf-einen-kurzen-Sprung-vorbeischauen“ kann man im „haus des staunens“ nicht. Die wesentlichste Voraussetzung für einen Besuch dort ist die Zeit, die man sich dafür nehmen muss.

Jede gute Pädagogik, so glaube ich, beginnt mit dem Staunen. In den Häusern unseres Lebens kommt es darauf an, dass wir von innen her berührt werden, uns dort auch berühren lassen und dann zur Sprache bringen können, was uns bewegt.


„Herzohr“ ist der Titel der soeben erschienen CD des Ensembles MonSonA (Michael Hecher, Dagmar Pleschberger, Manfred Tischitz und Gabriele Wagner-Kari) unter der Leitung von Manfred Tischitz.

 „Wie im Himmel“ (Regie: Kay Pollak, Schweden 2004) - Dem Regisseur Kay Pollack gelingt vor sechs Jahren mit diesem Film nach 20 jähriger Pause ein intensives Comeback.


Die Hauptfigur ist ein erfolgreicher Dirigent mit dem Künstlernamen Daniel Daréus. Während eines großen Konzerts erleidet er einen Herzinfarkt und muss deshalb seine Karriere beenden. Er zieht sich zurück an den Ort seiner Kindheit im Norden Schwedens. Mit geändertem Namen erkennt ihn dort niemand wieder.


Hier lernt er die junge Verkäuferin Lena kennen, die auch im örtlichen Kirchenchor singt. Der Sportladen-Besitzer des Dorfes versucht, ihn für diesen Chor zu gewinnen. Daniel sträubt sich, besucht nur widerwillig den Chor, entscheidet sich dann aber doch, die Leitung zu übernehmen und den Mitgliedern Gesangsunterricht zu geben. Der anfangs schlechte Chor wächst über sich hinaus. Und die Menschen im Dorf haben plötzlich wieder eine Perspektive, sie spüren ihre verschütteten Träume und Sehnsüchte:


„Vertrauen haben“, „stark und frei sein“, „das Leben spüren“, so beschreibt in ihrem Lied Gabriella den Himmel, den sie sucht und von dem sie schon ein Stück entdecken kann. Tore, der behinderte junge Mann, wird im Dorf akzeptiert, ein älteres Paar entdeckt die Liebe wieder; die Frau des Pfarrers stellt das gemeinsame Leben im Pfarrhof  infrage und entschließt sich, ihren Wünschen nach Zärtlichkeit nicht mehr länger Stillschweigen zu verordnen… Mit einem Wort: Durch Daniel gerät die Welt des Dorfes durcheinander, man könnte auch sagen: Durch einen einzigen Menschen erwacht ein ganzes Dorf zum Leben und seine Bewohner ahnen, was Himmel schon auf Erden bedeuten könnte:


Wir leben, weil wir uns begeistern, und der Himmel, von dem wir träumen, ist so kostbar, dass er nicht als billiger Trost ans Ende des Lebens geschoben werden darf. Himmel, wie ich ihn verstehe, beginnt hier und jetzt, überall dort wo es Menschen gelingt, Begeisterung mit anderen zu teilen. 

Mein Großvater väterlicherseits war ein neugieriger und spielerischer Mensch. Als erster im Dorf besaß er eine Schreibmaschine; als ältestes seiner Enkelkinder war es mein Vorrecht, darauf zu schreiben. Kein Wunder, dass ich dann anfing, Zeitungen zu sammeln und sie als Briefträger an die Nachbarn auszuteilen. Meinem Großvater verdanke ich es, dass mich das geschriebene Wort schon als Kind weit mehr interessierte als die Kühe im Stall und die Arbeit auf dem Felde. Zeitlebens tüftelte er daran, wie man sich die Arbeit in Haus und Hof erleichtern könnte; die Folge war u.a. eine patentierte Haue zum Setzen junger Waldpflanzen oder ein Gerät zur Erleichterung des Jätens im Garten. Ein ganz besonderes Projekt aber war für ihn die Entwicklung eines Staubsaugers, der beim Dreschen des Getreides den Feinstaub beseitigen sollte. Als er die Wundermaschine in Betrieb nehmen wollte, gab es einen fürchterlichen Knall, seine Erfindung explodierte und um ein Haar wäre ihm dabei das gesamte Wirtschaftsgebäude abgebrannt. Kreidebleich soll er danach in die Küche gekommen sein und zu meiner Großmutter gesagt haben:
„Thres‘, Thres‘, jetzt wär bald was passiert!“


Ich bin meinem Großvater dankbar für seine Lebensfreude, für seine Neugier, für seine Lust am Experimentieren.


Viele Menschen lassen sich auf Wagnisse im Leben nicht ein, sie bleiben lieber vorsichtig, damit nur ja nichts passiert. Aber, so vermutet Alexander Solschenyzin, wenn man immer nur vorsichtig ist, hört man irgendwann einmal auf, Mensch zu sein und verliert dabei Begeisterung und Lebensfreude.

Sokrates, (469/470 v. Chr. – 399 v. Chr.), ist für das abendländische Denken der grundlegendste griechische Philosoph, der Sohn eines Bildhauers und einer Hebamme. Tag für Tag soll er sich einfach, fast ärmlich gekleidet auf den Straßen und Plätzen Athens aufgehalten haben, umgeben von einer bunten Schar von Schülern.


Sokrates lehrt unentgeltlich und entwickelt eine Gesprächsmethode, die er „Mäeutik“ = „Hebammenkunst“ nennt. Die Grundlage dieser Kunst besteht in der Überzeugung, dass die Wahrheit dem Menschen nicht „hineingesagt“, sondern „hebammengleich“ aus ihm heraus „freigearbeitet“ werden müsse. Dabei setzt er wie der Wanderprediger aus Nazareth auf die Heilkraft menschlicher Begegnung. Es geht in erster Linie nicht um Belehrung, sondern um Ermutigung in ausschließlicher Zuwendung dem Einzelnen gegenüber; es geht darum, aus einem Menschen HERAUSZUARBEITEN, was er braucht, um in dieser Welt seinen Platz zu finden. Dadurch werden dem hilfesuchenden, wissbegierigen, bedürftigen Menschen nicht zuallererst Fragen beantwortet, sondern Lasten von den Schultern genommen und ein neuer Blick geöffnet. Durch diese Erfahrung werden bisher überlagerte persönliche Kräfte im Menschen lebendig und können nach und nach beginnen, sich frei zu entfalten.


Es gibt einen Platon zugeschriebenen Brief, in dem er von seinen Schülern gefragt wird, wie man aus der Schar der vielen Interessenten die zukünftigen Philosophen erkennen könne. Platons Rat an seine Schüler ist einfach:
Fangt an, mit ihnen Gespräche zu führen. Diejenigen, die sich Notizen machen, schickt nach Hause, denn sie wollen Wissen als Besitz festhalten.
Aus denen aber, die sich ins Gespräch vertiefen, wachsen die Freunde der Weisheit.

 

Nachlese

Kleine Zeitung
Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
20240214 Aschermittwoch.pdf
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