Wo ist die Welt zu Ende?
Der Quellensucher 1998 3/10
Werner Hofmeister
„Wo ist die Welt zu Ende?“
Das Christentum kennt seit jeher Orte der Kraft, die aufzusuchen eine besondere Faszination bedeutet. Ob es nun Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela ist, immer geht es bei Wallfahrten um einen Aufbruch, um „die Reise nach innen“, um Läuterung und Klärung auf der Suche nach dem, wovon man leben kann.
In Santiago de Compostela in Galizien, so heißt es, fand im Jahr 812 ein Hirte, geführt durch den hellen Schein eines Sterns, das Grab des Apostels Jakobus. Seit dem Mittelalter wurde es zum Ziel von Millionen Pilgern.
Dieser frühe „Spiri-tourismus“ in Spanien hat eine beeindruckende Kulturlandschaft hervorgebracht. Der Weg nach Santiago ist in rund 30-Kilometer-Abständen mit Kirchen, Klöstern und Hospizen gerüstet, um auch heute noch Pilgern am Ende ihrer Tagesetappen körperliches und geistliches Kraftschöpfen anzubieten.
Im Jahr 1989 war ich Teilnehmer an der größten Wallfahrt in der Geschichte dieses Wallfahrtsortes. Johannes Paul II. hatte Jugendliche aus der ganzen Welt eingeladen und eine halbe Million junger Menschen war gekommen: aus allen Ländern Europas, „vom Atlantik bis zum Ural“, wie der Papst es ausdrückte, aus Nord- und Lateinamerika, aus dem Mittleren Orient, aus Afrika, aus Asien und Ozeanien.
Ergreifend der einfache Ritus, den jeder Santiagopilger vollzieht:
Am Eingang der Basilika, an der großartigen „Porta de la Gloria“, legt der Pilger seine Hand an die Säule des Heiligen und verneigt sich, bevor er die Kathedrale betritt. Am Jakobusgrab folgen dann Glaubensbekenntnis und persönliches Gebet; seinen Abschluss findet der Pilgerritus mit dem Kuss auf die Schulter der Jakobusstatue auf dem Hochaltar. Am Ende des Gottesdienstes schwingt der „botafumeiro“, das größte Weihrauchfass der Welt, durch das mächtige Kirchenschiff und hüllt die ganze Gemeinde in eine duftende Rauchwolke...
Was sucht der Pilger, wenn er auf Wallfahrt geht?
Immer werden es ganz persönliche Gründe sein, die einen Menschen aufbrechen lassen. Aber immer gerät er durch seinen Pilgerweg in verwandelnde Erlebnisse, die er mit anderen teilt: man lernt wieder neu hören und sehen und riechen und schmecken, die Sinne bekommen ihre Kraft zurück, man spürt mit dem Herzen und achtet auf Dinge, die im Trubel des Alltags verloren gingen.
Aber muss man auf Reisen gehen, um den Sinn des Lebens besser in den Blick zu bekommen?
Von zwei russischen Mönchen wird erzählt, sie hätten ein Leben lang die „Porta de la Gloria“, die Pforte zum Himmel gesucht und dabei die ganze Welt durchstreift und viele Gefahren bestanden. Am Ende eines mühevollen und beschwerlichen Wanderlebens wären sie endlich an der geheimnisvollen Pforte gestanden: Gespannt hätten sie sie aufgestoßen, wären eingetreten, um zu merken, dass sie sich in der Klosterzelle befinden, aus der sie vor Jahren gemeinsam ausgezogen waren.
Schon vor 500 Jahren spottet Paracelsus über seine Zeitgenossen, die abwechselnd nach Antwerpen, Venedig, Frankfurt und Brüssel &Mac226;rennen‘, weil sie jeweils davon überzeugt sind, dort liege das Heil der Welt. Es ist nach Paracelsus nicht nötig, von Schwaben nach &Mac226;Allakutn‘, wie er es nennt – das heutige Kalkutta -, zu wandern, es ist nicht nötig, den Wein von Candia zu trinken; er sagt, wir brauchen keine Sehnsucht nach den fremden und fernen Gegenden zu haben, wie es im 16. Jahrhundert Mode geworden ist. Das Märchen von Kalkutta und der Wein von Candia schenken uns nicht mehr Freuden, als wir sie in unserem vertrauten Umkreis zu entdecken vermögen. Wenn das Herz im Menschen erwacht, regiert in ihm die Liebe. Er erkennt dann, dass Gott auch seine Wohnung, seinen Lebensraum voller Freude erschuf.[1]
Es braucht also nicht unbedingt die große Reise zu sein, die uns fündig werden lässt. Für den, der immer unterwegs ist, ist sein Zuhause vielleicht der privilegierte Ort existentieller Erfahrung und der Maßstab seiner Sehnsucht nach Sinn und inneren Frieden. Wer aber nie vom Fleck kommt und im Einerlei zu ersticken droht, dem tun sich, wenn er sich auf die Reise begibt, neue Sichtweisen auf und der Zurückkommende kehrt ein Stück weit gewandelt, geläutert „als ein anderer“ zurück.
Ein Werk des Künstlers Werner Hofmeister („Der Quellensucher / 1998“) zeigt Spazierstöcke mit der Aufschrift: „Wo ist die Welt zu Ende?“ Wir suchen als Menschen beständig den Ort, an dem die Welt das Geheimnis ihrer Drehbarkeit hat, „wo sie noch keusch ist, wo sie noch nicht geliebt und geschändet worden ist, wo die Heiligen sich noch nicht für sie verwandt und die Verbrecher keinen Blutfleck gelassen haben“, wie das Ingeborg Bachmann formuliert hat.[2]
Die Pilgerstäbe des Mittelalters sind „Fragezeichen“ in diesem Sinn.
In Santiago de Compostela stellt sich diese Frage auch in beeindruckender Form geographisch. Die Pilger kommen auf verschiedenen Wegen an den westlichsten Punkt des europäischen Festlandes. Die Frage, wo die Welt zu Ende ist, ergibt sich dort konkret, wo der Kontinent am Atlantik seine Grenze findet; dort ist ein privilegierter Ort der Sinnsuche, um weiter zu schauen als Augen blicken können und tiefer zu fragen als Abgründe reichen...
Arnold Mettnitzer
[1] Vgl. Kircher-Khol Monika, Eröffnung der Paracelsus Akademie Villach 1998.
[2] BACHMANN I., Das dreißigste Jahr. Erzählungen, dtv Taschenbuch 16. Auflage 1982, S. 30.