Zeitschiene 1986

 

Dominik Guggenberger

 


Entschleunigung oder die Wieder-Entdeckung der Langsamkeit

 

Der historische Luxusdampfer "Titanic", das Prestigeflugobjekt "Concorde" und das russische Atomunterseeboot "Kursk" haben zwei Dinge gemeinsam: sie galten als unüberbietbare Meisterleistungen und als unbesiegbare Strategieprojekte des zu Ende gegangenen Jahrhunderts. Ihr jeweiliger nicht vorhersehbarer, völlig überraschender Untergang steht uns als hintergründiges Symbol vor Augen. An ihm ist abzulesen, was zu leisten der Mensch im Stande ist, - gleichzeitig aber, wie brüchig und begrenzt menschliches Handeln bleibt:

Im Mikrokosmos unserer kleinen Welt schaut es nicht viel anders aus: Auch hier wiederholt sich die Spannung von großartiger Leistung und täglicher Grenzerfahrung: In der Welt unserer eigenen vier Wände sind wir für einen Augenblick glücklich; wenig später scheitern in dieser Welt unsere Beziehungen und im Handumdrehen verlieren wir den Boden unter unseren Füßen.
Das Unvermögen des beschleunigten Menschen liegt in einer wachsenden Unfähigkeit zur Langsamkeit, Bedächtigkeit und gründlichen Prüfung, letztlich in einer Unfähigkeit zur Hingabe. Es mag eine schnelle Leidenschaft, einen rasanten Flirt oder eine kurze Liebschaft geben - Liebe und Hingabe aber brauchen Zeit, die wir nicht mehr haben.

Die Entdeckung der Langsamkeit ist daher auch eine Wiederentdeckung der Hingabe. Ob man sich beim Wandern einer Landschaft, beim Musizieren der Musik, bei der Lektüre einem Text oder bei der Liebe einem Menschen "hingibt", - es kann nur gelingen, wenn man es ganz tut.
Liebe ist zur Kunst geworden, die immer weniger Menschen beherrschen; das verständnisvolle Gespräch zwischen Menschen ist eine Kostbarkeit, die sich kaum mehr jemand leisten kann.

„ Was ist das für eine Welt, in der fürs Zuhören Honorare verlangt werden müssen?“ fragt Sophie Freud, die Enkelin von S. Freud.