Die biblische Rede von der Liebe

oder

Jesus, der Liebhaber

Die Sehnsucht des Menschen nach dem Anderen

In der Gestalt Jesu besitzt das Christentum eine erosfreundliche Substanz. Heinrich Böll verweist daher auf eine Theologie der Zärtlichkeit im Neuen Testament, eine Zärtlichkeit, die immer heilend wirkt: durch Worte, durch Handauflegen, durch Küsse, gemeinsame Mahlzeiten …

 

Umarmungen, sinnliche Gesten, gemeinsames Essen und Trinken, Fußwaschungen, Gespräche sind Zeichen für eine erotische Kultur, die mehr umfasst als reine Sexualität. Wir haben in Jesus einen liebenden Menschen vor uns, eine Inkarnation der Erotik Gottes und damit letztlich einen Archetyp des Liebhabers, auch wenn uns die asketische hellenistische Auslegungstradition dies lange unterschlagen hat.

 

Jesus als Liebhaber zu bezeichnen, mag ungewöhnlich erscheinen.
Doch was war er sonst, wenn nicht Liebhaber - Liebhaber der Armen und Unterdrückten, Liebhaber des Weines und des guten Essens, Liebhaber seiner Freunde und vor allem der Frauen. 
Anders als die Glaubensgemeinschaft der Essener, die nicht nur Reichtum und Luxus, sondern auch die Frauen wegen ihrer Sinnlichkeit und angeblichen Triebhaftigkeit verachten, verhält sich Jesus ohne Vorurteile gegenüber dem anderen Geschlecht.

 

Nicht das Christentum war asketisch, leibfeindlich, eros-skeptisch oder erdrückte mit der Last seiner moralischen Kreuzesethik die blühende Liebeskultur der Antike. Vielmehr brachte der niedergehende Hellenismus asketische Tendenzen in das Christentum.

Die Überlebenschance der Kirchen besteht also darin, die in der Bibel so deutlich feststellbare Lust am Lebendigen, die Lust an der Zärtlichkeit, theologisch, liturgisch und praktisch wieder stärker zu artikulieren. Und aus historischer Sicht ist es schwer zu erklären, warum sich die Erotik in der christlichen Religion mit dem letzten Rang zufrieden geben muss.

 

Denn der Gott Eros hatte ursprünglich eine andere Funktion als die eines Feindbildes der reinen christlichen Lehre. In der Antike galt der Sohn der Liebesgöttin Aphrodite noch als Leitfigur der Tugend und der Menschlichkeit.


Als ich vor Jahren in einem Fernsehinterview davon sprach, dass ich meine Wiener Praxis „mit viel Eros“ eingerichtet habe, hat mich ein hochrangiger Kärntner Christ für diese Wortwahl scharf kritisiert und als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Das Wort Eros allein schon hatte ihm Angst gemacht.

 

Gerade die Theologie treibt die Anpassung an das hellenistische Denken und folglich deren Preisgabe an dualistische Reflexionen so weit, dass sie in Widerspruch zur zentralen Glaubensaussage der hebräischen und urchristlichen Tradition gerät:

 

Kritischer Gegenwind

Friedrich Nietzsche formuliert seine Kritik am Verrat des Eros in dem Satz: „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken, er starb zwar nicht daran, aber er entartete zum Laster.“

Er empört sich darüber, dass Schönheit, Sinnlichkeit, Freude am Körper im Christentum nur ein Schattendasein führen dürften.

Zwar gelingt es den Christen nicht, das Erotische völlig zu entmachten, aber sie nehmen ihm die Unbefangenheit, indem sie ihn grundsätzlich verdächtigen, für das Böse in der Welt verantwortlich zu sein.

Voreheliche Sexualität fällt ebenso unter das kirchliche Verdikt wie der lustvolle Austausch körperlicher Berührungen in der Ehe, in der jede geschlechtliche Vereinigung ohnehin nur zum Zweck der Zeugung von Nachkommen zu dienen hat.

Zölibat, Keuschheit und Jungfräulichkeit, denen als charismatische Berufungen durchaus ihre Bedeutung zuerkannt sein soll, werden zwangsläufig überbewertet.

 

Der christlichen Empfehlung, in allen Dingen Maß zu halten, bringt Nietzsche nur Sarkasmus entgegen: „Die Mäßigen sind auch immer die Mittelmäßigen.“ Nur keine dionysische Ekstase, nur kein seliges Außer-Sich-Sein vor Freude. Das christliche Ideal ist lauwarm temperiert.
Eros und Agape wurden auseinanderdividiert, das ist im Grunde nicht haltbar. Weder bedeutet der Eros nur sinnliche Liebe mit sexueller Energie, noch die im Neuen Testament propagierte Agape nur dienende, sich schenkende, opfernde Liebe. Die Aufspaltung des Begriffs „Liebe“ in Eros und Agape, Philia bzw. Libido und Caritas führte zu einer unerträglichen Reduktion der Bedeutungsvielfalt. Sie ist Teil der unerträglichen Tradition, den Glauben vom alltäglichen Leben, die Religion von der Politik, die Privatheit von der Öffentlichkeit rigoros zu trennen und alles mit einer „verrechtlichten Sprache“ zu benennen. In der Folge unterscheidet man streng zwischen einer sakralen und einer profanen Welt, zwischen heilig-religiösen und sündig-weltlichen Bezirken, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Schwarz und Weiß. Und diesen Bereichen weist man spezifische Lebensformen zu: Zölibat und bewusstes Alleinleben der religiösen Existenz, Ehe dem weltlichen Leben.

 

Erwin Ringel kommt in seiner feurigen „Rede über Österreich“ auch auf dieses Thema zu sprechen und stellt abschließend fest:

 

„Aus diesen Zusammenhängen leitet sich eine alarmierende Diagnose ab: Wo Menschliches mit Akribie eliminiert oder verurteilt wird, die Menschwerdung nicht stattfinden darf, geht für eine Lehre auch die Attraktivität auf Menschen verloren, sie droht, aus lebendiger Substanz totes, theoretisches System zu werden. Dies steht in Übereinstimmung mit der gerade in Österreich festzustellenden psychotherapeutischen Einsicht, dass Gott sich vielfach aus dem Bewusstsein zurückgezogen hat, dafür im Unbewussten eine unendliche Sehnsucht nach Religion besteht, die aber von einer menschenfernen, ja oft menschenfeindlichen formalistischen Auslegung der christlichen Lehre nicht erfüllt werden kann.“ 
Erwin Ringel, Die Österreichische Seele, Europaverlag Wien Zürich 9. Auflage 1991, Seite 43

 

Weitere Literatur:
Bachl Gottfried, Der beschädigte Eros. Frau und Mann im Christentum, Herder 1989
Mary Michael, Fünf Lügen, die Liebe betreffend, Hoffmann und Campe 2001
Thiele Johannes, Verflucht sinnlich. Die erogenen Zonen der Religion, List 2000