Man muss den Dingen

die eigene, stille

ungestörte Entwicklung lassen,

die tief von innen kommt

und durch nichts gedrängt

oder beschleunigt werden kann,

alles ist austragen – und

dann gebären …

 

Reifen wie der Baum,

der seine Säfte nicht drängt

und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,

ohne Angst,

dass dahinter kein Sommer

kommen könnte.

 

Er kommt doch!

 

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,

die da sind, 

als ob die Ewigkeit

vor ihnen läge,

so sorglos, still und weit …

 

Man muss Geduld haben

mit dem Ungelösten im Herzen,

und versuchen,

die Fragen selber lieb zu haben,

wie verschlossene Stuben,

und wie Bücher, 

die in einer sehr fremden Sprache

geschrieben sind.

 

Es handelt sich darum, alles zu leben.

 

Wenn man die Fragen lebt,

lebt man vielleicht 

allmählich,

ohne es zu merken,

in die Antworten hinein.


 

(aus: Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter

 Die insgesamt zehn Briefe sind als Antworten an Franz Xaver Kappus verfasst. 

Dieser hatte sich hilfesuchend bezüglich seiner ersten literarischen Werke an Rilke gewandt. 

Die Briefe entstanden in den Jahren 1903 bis 1908 an verschiedenen Orten Europas)

Nachlese

Kleine Zeitung
Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
20240214 Aschermittwoch.pdf
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