Psychotherapie und Seelsorge haben mehr gemeinsam als ihnen Recht sein mag…

Psychotherapie und Seelsorge gehören seit der Antike zusammen. Sie sind zwei ungleiche Geschwister, die nicht zu wissen scheinen, was sie miteinander anfangen sollten. Die letzten 100 Jahre standen mit seltenen Ausnahmen ganz im Dienst der Unterscheidung und gegenseitigen Abgrenzung; nicht selten wurde daraus Ausgrenzung unter gegenseitiger Verdächtigung. Seelsorger und Seelsorgerinnen hegen den Verdacht, „Selbstverwirklichung“ und sonstige emanzipatorische Bemühungen stünden dem Impuls des Evangeliums im Wege, sich selbst zu vergessen, um das wahre Leben zu gewinnen (vgl. Mt 10,39). Therapeutinnen und Therapeuten werden, wenn ihre Patienten von Gott zu reden beginnen, den Verdacht nicht los, es handle sich um eine Gängelung von außen bis hin zur autoritären Zerstörung der menschlichen Person. „Gott“ erscheint ihnen eher als „Götze“ denn als verlässliche Orientierungshilfe.
Diese eifrig auf beiden Seiten betriebene Grenzziehung wird letztlich auf Kosten suchender und leidender Menschen ausgetragen. Therapeuten machen vielfach um das Thema des religiösen Lebens und Erlebens einen weiten Bogen. Diesbezügliche Fragen und Überlegungen werden nicht ernstlich erwogen. Die darin zu Tage tretenden Emotionen könnten aber wesentliche Kräfte zur Bewältigung des Alltags freilegen und Heilungsprozesse fördern. Wenn diese aber als „nicht relevanter Privatbereich“ von therapeutischer Konsultation ausgespart bleiben, muss der Behandlungserfolg darunter leiden.

Auch im Umfeld der Seelsorge gibt es diesbezüglich durchaus Vergleichbares. Die immer noch feststellbare Skepsis dem Körperlichen gegenüber und der grundsätzliche Verdacht, dass die Psychotherapie dem Menschen eine gefährliche Freiheit ermögliche, lässt so manchen Kanzelredner gegen das wettern, was er nur vom Hörensagen kennt und von dessen heilsamer Wirkung er aus grundsätzlicher Skepsis und mangelnder Erfahrung keine Vorstellung haben kann. Selbsterfahrung (und erst recht die auf der Couch und in therapeutischen Gesprächen) ist bis zum heutigen Tag in der pastoralen Ausbildung eine Rarität und wenn, dann eher unter Schwierigkeiten möglich. Und so konnte und kann Seelsorgern bei offensichtlich großer seelischer Not kaum in den Sinn kommen, ihren Gläubigen therapeutische Hilfe anzuempfehlen.
Allen diesen Beobachtungen zum Trotz gehören Psychotherapie und Seelsorge zusammen. Sie erscheinen als zwei Seiten einer Medaille, als zwei Saiten eines Instrumentes. Dieses Instrument, das auf beiden Seiten mit großer Sorgfalt gewartet und gepflegt werden will, ist das nicht bewertende, verständnisvolle und aufmunternde Wort in der Intimität heilender Begegnung. Davon ist die Psychotherapie wie auch die Seelsorge in die Pflicht genommen. Bei der Betonung des Gemeinsamen sollen die Unterschiede nicht übersehen werden; weil aber gerade diese in den vergangenen hundert Jahren immer wieder, das Gemeinsame und Verbindende dagegen kaum Beachtung fanden, ist es an der Zeit, einem angstfreien und gegenseitig befruchtenden Miteinander die Aufmerksamkeit zu schenken. Das biblische Wort „Ich bin gekommen, dass sie Leben haben – ja es haben überreich (Joh 10,10 in der Übersetzung von Friedolin Stier)“ könnte der Psychotherapie wie der Seelsorge als Leitgedanke dienen. Beide Berufsfelder müssten daran gemessen werden, ob sie den Menschen in größere Freiheit oder in größere Abhängigkeit führen. Paulus schreibt an die Korinther: „Es ist ja nicht so, dass wir über euren Glauben Herr sein wollen. Nein: Werkgenossen sind wir an eurer Freude! (2 Kor 1,24 Übersetzung F. Stier)“. 
Als Seelsorger und Therapeut erfahre ich es beinahe täglich, dass die sprachliche Parallele („Psychotherapie“ ist das griechische Wort für „Seelsorge“) zu Recht besteht. Die unübersehbaren Gemeinsamkeiten lassen sich bei etwas gutem Willen auf beiden Seiten in vier Punkten zusammenfassen:
1. Beiden Bereichen könnte ein „sokratisch-jesuanischer Optimismus“ zugrunde liegen. Dieser geht davon aus, dass die Wahrheit eines Menschen in seinem Inneren zu entdecken ist; sie muss ihm nicht von außen „hinein-gesagt“, sie kann aus ihm heraus „freigearbeitet“ werden. Voraussetzung dafür ist allerdings gegenseitiges Vertrauen und vorurteilsfreie Akzeptanz. Hilfe wird nicht durch Belehrung (von außen nach innen), sondern durch Hebammendienste (von innen nach außen)!
2. Psychotherapie und Seelsorge könnten in ihrer jeweiligen Arbeit einen „pragmatischen Individualismus“ entdecken, demnach es sich lohnt, einem einzigen Menschen so lange zuzuhören und Aufmerksamkeit zu schenken, bis sich artikulieren lässt, woran die Seele leidet. 
3. Beiden gemeinsam könnte ein „methodischer Immoralismus“ sein, der seinen Ausgangspunkt in der Überzeugung hat, dass die Wahrheit eines Menschen sich nicht moralisch beschreiben lässt. Normen und Regeln der Gesellschaft mögen (nicht nur im Straßenverkehr) sinnvoll sein, geht es aber um die Linderung konkreter Not, erweisen sie sich als ungeeignet zu wirklicher Hilfe. 
4. Durch die Berücksichtigung der „Dimension des Unbewussten“ auch in der Seelsorge könnten Handlungsabläufe und menschliche Entscheidungen besser verstanden und gedeutet werden. Oder umgekehrt: Wo das Unbewusste bewusst übergangen wird, kann menschliches Handeln überhaupt nicht begriffen werden.
Mit meinem Buch habe ich das Gemeinsame von Psychotherapie und Seelsorge vorzustellen versucht. Mein Anliegen dabei war es, die spirituelle Dimension des Menschen auf der einen Seite vor dem Vergessen zu bewahren und sie auf der anderen Seite vor Vereinnahmung zu schützen. Religion, Glaube und Spiritualität sind Grundbedürfnisse jedes Menschen und gehören zu seinem innersten Wesenskern. Diesen Kern nicht zu beachten, zu verleugnen oder ihn gar zu institutionellen Zwecken zu missbrauchen kann Heilungsprozesse negativ beeinflussen und den weiteren Verlauf eines Lebens schwer schädigen.

Ein angstfreies und fruchtbares Miteinander hingegen führt hinein in offene Weite. In der bedingungslosen Offenheit dem Einzelnen gegenüber liegt für Psychotherapie und Seelsorge die Möglichkeit, einem Menschen in seiner Not und Sehnsucht nahe zu sein. Erst diese Nähe in offener Weite macht ihren Dienst glaubwürdig und heilsam.
Warum, wäre zu fragen, ist das, was hier an Grundhaltung dem Patienten oder Gläubigen gegenüber gefordert und immer wieder praktiziert wird, nicht auch im gegenseitigen Umgang von Psychotherapie und Seelsorge möglich? Es bräuchte „nur“ die Verständigung darüber, dass die gemeinsame Wahrheit - was immer darüber hinaus den beiden Bereichen getrennt voneinander „heilig“ sein mag - darin besteht, sich gegenseitig Raum zu schaffen, damit der Andere sein kann, wer er ist. Ohne diese bedingungslose Akzeptanz kann Therapie nicht gelingen und Religion nicht ins Leben führen.

 

aus: Arnold Mettnitzer, Couch & Altar by Styria Verlag

 

Nachlese

Kleine Zeitung
Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
20240214 Aschermittwoch.pdf
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