Sprache

Die Sonne spricht zu uns mit Licht,

Mit Duft und Farbe spricht die Blume,

Mit Wolken, Schnee und Regen spricht

Die Luft. Es lebt im Heiligtume

Der Welt ein unstillbarer Drang,

Der Dinge Stummheit zu durchbrechen,

In Wort, Gebärde, Farbe, Klang

Des Seins Geheimnis auszusprechen.

Hier strömt der Künste lichter Quell,

Es ringt nach Wort, nach Offenbarung,

Nach Geist die Welt und kündet hell

Aus Menschenlippen ewige Erfahrung.

Nach Sprache sehnt sich alles Leben,

In Wort und Zahl, In Farbe, Linie, Ton

Beschwört sich unser dumpfes Streben

Und baut des Sinnes immer höhern Thron.

 

In einer Blume Rot und Blau,

In eines Dichters Worte wendet

Nach innen sich der Schöpfung Bau,

Der stets beginnt und niemals endet.

Und wo sich Wort und Ton gesellt,

Wo Lied erklingt, Kunst sich entfaltet,

Wird jedes Mal der Sinn der Welt,

Des ganzen Daseins neu gestaltet,

Und jedes Lied und jedes Buch

Und jedes Bild ist ein Enthüllen,

Ein neuer tausendster Versuch,

Des Lebens Einheit zu erfüllen.

In diese Einheit einzugehn

Lockt euch die Dichtung, die Musik,

Der Schöpfung Vielfalt zu verstehn

Genügt ein einziger Spiegelblick.

Was uns Verworrenes begegnet,

Wird klar und einfach im Gedicht:

Die Blume lacht, die Wolke regnet,

Die Welt hat Sinn, das Stumme spricht.

 

Hermann Hesse, Die Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1992, Seite 594

 

Nachlese

Kleine Zeitung
Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
20240214 Aschermittwoch.pdf
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