Reise

Dorothee Sölle beschreibt in ihrem Buch "Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen", Kreuz Verlag, 7. Auflage 1983, im Vorspann die Erfahrungen der Seele auf dem Weg zu sich selbst als "Reise", genauer als "Hinreise", die in Meditation und Versenkung angetreten wird. Darin sieht sie die Hilfe der Religion auf dem Weg der Menschen zu ihrer Identität. Christlicher Glaube akzentuiert die "Rückreise" in die Welt und ihre Verantwortung. Aber es braucht eine tiefere Vergewisserung als die, die wir im Handeln erlangen: eben die "Hinreise".
In der christlichen Tradition gilt der Erzengel Raphael als Schutzpatron der Reisenden; er ist für Heilung zuständig ist. Das setzt die Erfahrung voraus, dass ein Reisender sich in Gefahr begibt und: dass der, der unverletzt bleiben will, zu Hause bleiben muss. Wer aber Verletzungen davonträgt, wer "Federn lassen" muss, wer Abschürfungen erleidet, wem Wunden geschlagen wurden, der hat Sehnsucht nach einem "heilenden" Gefährten...
In der Gestalt des Raphael bündelt sich offenbar die Weisheit des Herzens, die noch davon weiß, dass Reise und Heilung zusammen gehören... Im Wort „Erfahrung“ steckt ja auch das Fahren, also die "Reise" schon drinnen und die Sehnsucht nach Heil, Heilung, Ganz-werden, wachsen, "weiter-kommen" - wie wir es nennen.
"Erfahrung nannte man früher Seele" (Sölle). Und wir haben eine eigenartige Angst davor, unsere eigenen Erfahrungen auszusprechen, und vor allem haben wir Angst, die wichtigste Sprache menschlicher Erfahrungen, die religiöse Sprache zu gebrauchen. Lieber verleugnen und verdrängen wir uns selber und vervielfachen die eigene Sprachlosigkeit, als dass wir uns ausgerechnet von der Religion "das Hemd ausziehen" lassen. (vgl ebd. 39)
In der Nacharbeit zu einem Fernsehinterview sagt Sölle: "Ich dachte, ich könne "über" Religion und Theologie reden. Aber zum Geheimnis religiöser Sprache gehört es, dass sie sich nicht zu einem Instrument verdinglichen lässt, weil sie, instrumental benutzt, nichts als das unbrauchbarste, unpräzise Geschwätz hergibt.
Die Sprache der Religion ist gesammelte Erfahrung, die lebendig nur dort wird, wo sie aus Erfahrung auf Erfahrung hin spricht.
"Es fiel mir nicht leicht, über meine Erfahrung 'zu sterben' zu sprechen. Dieser Tod war für mich die vollständige Zerstörung eines ersten Lebensentwurfs. Alles, worauf ich gebaut hatte, was ich gehofft, geglaubt und gewollt hatte, war vernichtet.... Ich habe über drei Jahre gebraucht, nicht, um damit "fertigzuwerden", sondern nur, um die mich ständig begleitenden Wunschphantasien des Selbstmord zu überwinden. Sterben-wollen war die einzige Hoffnung, der einzige Gedanke.
In dieser Situation ging ich einmal auf einer Reise durch Belgien in eine dieser spätgotischen Kirchen. Der Ausdruck "beten" kommt mir jetzt falsch vor; ich war ein einziger Schrei. Ich schrie um Hilfe, und darunter konnte ich mir zweierlei vorstellen: dass mein Mann zu mir zurückkehrte oder daß ich stürbe und diese Dauerhinrichtung endlich aufhörte. In dieser Kirche fiel mir, in mein Schreien versunken, ein Wort aus der Bibel ein: "Lass dir an meiner Gnade genügen." Ich hasste dieses Wort schon lange, es war für mich der Ausdruck einer durch nichts gemilderten Brutalität...
Der über alles mächtige Gott, der für Tausende Gesundheit, langes Leben und Wohlergehen hatte, hatte für Paulus nichts übrig als einen Spruch, der die unerträgliche Realität nicht änderte, sondern festschrieb. Ich muss damals in der Mitte des Tunnels angekommen gewesen sein. Ich wusste wirklich nicht, was das theologische Wort ‚Gnade‘ bedeuten könnte, wenn alle Realität meines Lebens nichts damit zu tun hätte. Aber ‚Gott‘ hatte mir gerade diesen Satz ‚gesagt‘. Ich kam aus der Kirche und betete von nun an nicht mehr darum, dass mein Mann zu mir zurückkäme. (Sterben zu können, darum habe ich noch lange gebetet.) Ich fing, in der Größe eines Stecknadelkopfes, an zu akzeptieren, dass mein Mann einen anderen, seinen eigenen Weg ging.
Ich war am Ende, und Gott hatte den ersten Entwurf zerrissen. Er hatte mich nicht getröstet, wie ein Psychologe, der mir erklärte, dass dies vorauszusehen gewesen sei, er bot mir nicht die gesellschaftlich üblichen Beschwichtigungen an. Er warf mich mit dem Gesicht auf den Boden. Es war nicht einmal der Tod, den ich mir wünsche, geschweige denn das Leben. Es war ein anderer Tod.
Später habe ich gemerkt, dass alle, die glauben, ein wenig hinken, wie Jakob, nachdem er mit dem Engel gekämpft hat. Sie sind schon einmal gestorben. Man kann es niemandem wünschen, aber auch nicht versuchen, es ihm durch Belehrung zu ersparen. Die Erfahrung des Glaubens ist ebenso wenig ersetzbar, wie die Erfahrung der physischen Liebe." (Ebd. 42-44)

Nachlese

Kleine Zeitung
Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
20240214 Aschermittwoch.pdf
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