Ein kleiner literarischer Fund beschreibt für mich, worauf im Letzten  psychotherapeutischen Begegnungen hinzielen:

Jedes Leid will noch einmal gesehen werden

Und der Sinn dieses Abenteuers?
Vor gut einem Jahr bin ich in Wien einem alten Rabbi aus New York begegnet, der gekommen war, um einen Vortrag über die Tradition zu halten.
Als er gefragt wurde, weshalb er über fünfzig Jahre gewartet hatte, bevor er wieder in seine Heimatstadt zurückgekommen ist, hat er folgendes geantwortet:
„Ich bin alt und werde bald sterben. Daher habe ich mich gefragt: Was kann ich noch tun für diese Erde, bevor ich sie verlasse? Und sofort schoss mir die Antwort klar und deutlich durch den Kopf: Tilge von dieser Erde alle Spur von deinem Leid! 
Ich habe mich erinnert, dass es in Wien noch eine vergessene Spur gibt. Als Kind wurde ich auf dem Schulweg von jungen Nazis angepöbelt, mit Steinen beworfen und blutend, wie ich war, auf der S.-Brücke liegen gelassen. 
Heute Morgen bin ich in aller Frühe, noch bevor die Stadt erwachte, an diese Stelle zurückgekehrt. Ich habe die Brücke wiedergefunden. Ich habe das Kind wiedergefunden. Es war, als hielte es sich immer noch schützend die Arme vor die Augen, und es weinte. Ich habe ihm aufgeholfen, ich habe es an mich gedrückt, ich habe zu ihm gesagt: Komm, Kleiner, komm, ich nehme dich mit. Nun ist alles vorbei. Nun sind wir beide frei, du wie ich. Dann haben wir uns gemeinsam Hand in Hand entfernt. 
Und, sehen Sie, so ist nun keinerlei Leid mehr von mir übrig, das die Stadt noch verfolgen könnte. Keine Scheibe beschlägt mehr von meinem ängstlichen Atem! Deshalb bin ich zurückgekommen, und deshalb gehe ich wieder fort.“

Was wäre dem noch hinzuzufügen?
Bevor es sich von der Glut der Liebe aufzehren lässt, will jedes Leid noch einmal gesehen werden. So wie jedes Wunder der Schöpfung eines Blickes gewürdigt werden will.
Und ganz allmählich öffnen sich in meinen offenen Augen weitere Augen, die es besser verstehen zu sehen.

 

Aus: Christiane Singer: Rastenberg. Geschichte einer Liebe. 
Paul List Verlag GmbH. & CoKG – München; 1998, 
ISBN 3-471-78656-2, Seite 195-196.

 

Rückblick

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Kleine Zeitung | 14.04.2024
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