Neuer Mensch

Eine adventliche Perspektive


Wenn die Kirche im Dorf gelassen ist, wenn einer in die Grube gefallen ist, die er einem anderen grub, wenn sich das Sprichwörtliche erfüllt und alle Voraussagen über Mondwechsel und Sonnengang wieder einmal recht behalten haben – mit einem Wort, wenn die Rechnung vorläufig aufgeht und alles, was im All fliegen soll, fliegt, dann muss er den Kopf schütteln und denken, in welcher Zeit er lebt.
Er ist, wie alle, nicht gut vorbereitet; er weiß nur den geringsten Teil und jeder weiß ja nur einen allergeringsten Teil von dem, was vorgeht.
Er weiß zufällig, dass es Roboter gibt, die sich nicht irren, und er kennt einen Straßenbahnführer, der sich schon einmal geirrt hat mit der Abfahrtszeit und dem Vorfahrtsrecht. Vielleicht irren sich die Sterne und Kometen, wenn zuviel dazwischenkommt, aus Zerstreuung und Müdigkeit und weil sie abgelenkt werden vom alten poetischen Vortrag ihres Lichts.
Er möchte nicht oben sein, aber es ist ihm recht, dass es oben weitergeht, weil oben auch unten ist, also dass es rundherum weitergeht, denn aufzuhalten ist es nicht. Niemand hält es auf. Man hält die Gedanken nicht auf und kein Werkzeug zu ihrer Verlängerung. Es ist auch gleich, ob man links oder rechts durch den Raum fliegt, da alles schon fliegt, die Erde etwa, und wenn noch Flug im Flug ist, umso besser, dass es fliegt und sich dreht, damit man weiß, wie sehr es sich dreht und dass nirgends ein Halt ist, nicht im gestirnten Himmel über dir …
Aber in dir drinnen, wo du kaum aufkommst und nicht sehr mitfliegst, wo zwar auch kein Halt ist, aber ein gestockter, zäher Brei von alten Fragen, die nichts mit Fliegen zu tun haben und Abschussbasen, wo du das Steuer nur ruckweise und kaum spürbar drehen kannst, wo die Moral von der ganzen Geschichte gemacht wird, weil in ihr selbst keine ist, wo du die Moral von der Moral suchst und die Rechnung nicht aufgeht
Wo einer eine Grube gräbt und selbst hineinfällt, wo du klebst und dich windest und noch immer klebst und nicht weiter kannst
Weil dir dort kein Licht aufgeht (und was hilft’s dir dann, alles zu wissen über die Lichtgeschwindigkeit?), weil dir kein Licht aufgeht über die Welt und dich und die ganzen Leben und Unleben und Tode
Weil hier nur Marter ist, weil du in der Gaunersprache das rechte Wort nicht findest und die Welt nicht löst
Nur die Gleichung löst du, die die Welt auch ist
Die Welt ist auch eine Gleichung, die löst sich, und dann ist Gold gleich Gold und Dreck gleich Dreck
Aber nichts ist dem gleich in dir und nichts gleich der Welt in dir
Wenn du das aufgeben könntest, austreten könntest aus deiner gewohnten Beklemmung über das Gute und das Böse und in dem Brei alter Fragen nicht weiterrührtest, wenn du den Mut hättest, einzutreten in den Fortschritt
Nicht nur in den vom Gaslicht zur Elektrizität, vom Ballon zur Rakete (die subalterne Verbesserung)
Wenn du den Menschen aufgäbst, den alten, und einen neuen annähmst, dann
Dann, wenn die Welt nicht mehr weiterginge zwischen Mann und Frau, so wie jetzt, zwischen Wahrheit und Lüge, wie Wahrheit jetzt und Lüge jetzt,
Wenn das alles zum Teufel ginge
Wenn du die Rechnung, auf die du Wert legst, neu aufstelltest und ihr Rechnung trügst
Wenn du ein Flieger wärst und, ohne zu deuteln, deine Bögen flögst, wenn du nur Nachricht gäbst, Bericht, nicht mehr die Geschichte von alledem zusammen, von dir und noch einem und einem Dritten
Dann, wenn du heil wärst und nicht mehr verwundet, gekränkt, süchtig nach Reinheit und Rache
Wenn du keine Märchen mehr glaubtest und dich nicht mehr fürchtetest im Dunkeln
Wenn du nicht mehr wagen müsstest und verlieren oder gewinnen, sondern machtest
Machst, den Handgriff in der größeren Ordnung, denkst in der Ordnung, wenn du in der Ordnung wärst, in der Rechnung, aufgingst in der hellen Ordnung
Dann, wenn du nicht mehr meinst, dass es besser gehen müsse „im Rahmen des Gegebenen“, dass die Reichen nicht mehr reich und die Armen nicht mehr arm sein dürften, die Unschuldigen nicht mehr verurteilt und die Schuldigen gerichtet werden sollten
Wenn du nicht mehr trösten und Gutes tun willst und keinen Trost mehr verlangst und Hilfe
Wenn das Mitleid und das Leid zum Teufel gegangen sind und der Teufel zum Teufel, dann!
Dann, wenn die Welt dort angefasst wird, wo sie sich auch anfassen lässt, wo sie das Geheimnis der Drehbarkeit hat, wo sie noch keusch ist, wo sie noch nicht geliebt und geschändet worden ist, wo die Heiligen sich noch nicht für sie verwandt und die Verbrecher keinen Blutfleck gelassen haben
Wenn der neue Status geschaffen ist
Wenn die Nachfolge in keinem Geist mehr angetreten wird
Wenn endlich endlich kommt
Dann
Dann spring noch einmal auf und reiß die alte schimpfliche Ordnung ein. Dann sei anders, damit die Welt sich verändert, damit sie die Richtung ändert, endlich! Dann, tritt du sie an!

 

Aus: Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr, Erzählungen, Deutscher Taschenbuchverlag , 16. Auflage 1982, Seite 28-30( auch dtv großdruck Band 2533)

Nachlese

Kleine Zeitung
Asche aufs Haupt: Warum wir die Welt noch retten können
20240214 Aschermittwoch.pdf
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