Das Ohr als Tor

Eine Geschichte erzählt von einem Alten und einem Jungen, die durch eine Stadt gehen. Plötzlich bleibt der Alte stehen und sagt zu seinem Begleiter: "Hör' doch, da singt eine Grille!" – "Wie kannst du", wundert sich der Junge, "im Stadtlärm eine einzelne Grille zirpen hören?" Im Weitergehen lässt der Alte unbemerkt eine Münze zu Boden fallen. Der Junge bleibt stehen und sucht nach dem Geld. Der Alte wundert sich: "Wie kannst du im Stadtlärm eine einzelne Münze fallen hören?" Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Wir hören immer das, wonach wir im Herzen Sehnsucht haben. Und so bleiben gesunde Ohren deshalb taub, weil für den Moment das Herz an anderer Stelle verankert ist. Schon der Prophet Jesaja beklagt: "Du hast vieles gesehen, aber nicht beachtet; du hattest die Ohren offen und hast doch nichts gehört."(Jes 42,20) bei der liturgischen Feier der katholischen Kindertaufe betet der Taufspender, indem er Ohren und Mund des Täuflings berührt: "Der Herr lasse dich heranwachsen, und wie er mit dem Ruf "Effata" dem Taubstummen die Ohren und den Mund geöffnet hat, so öffne er auch dir die Ohren und den Mund."


Es gehört zu meinen beeindruckendsten Erfahrungen am Krankenbett, mitzuerleben, wie Sterbende auf direkte Ansprache nicht mehr reagieren können, aber zum Klang der an ihrem Sterbebett gesprochenen Gebete plötzlich ihre Lippen bewegen; oder, wenn ich mit ihnen rede und nur mehr am Händedruck feststellen kann, dass sie mich hören und verstehen …Das erste Sinnesorgan des Menschen ist das Ohr. Es ist das zuerst ausgebildete, schon im Mutterleib funktionierende Sinnesorgan, es hört schon vor der Geburt. Das Ohr ist aber auch das letzte Sinnesorgan, das stirbt, wenn ein Menschenleben verlischt. Das Ohr ist "das Tor zur Seele", wie eine indische Weisheit sagt. Das Ohr ist auch das wichtigste Sinnesorgan für Ärzte, Seelsorger und Therapeuten wie überhaupt für alle helfenden Berufe. Müsste man für sie einen gemeinsamen "Schutzpatron" finden, so könnte das die kleine Momo aus dem Märchenroman von Michael Ende sein: "Momo", heißt es dort, "konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden."


Die hohe Kunst des Hörens braucht aber viel Übung und Selbsterfahrung. Die vorurteilsfreie Haltung, die unbedingte Akzeptanz des anderen Menschen unabhängig von seiner Lebensart und seinen darin gemachten Erfahrungen, Aufmerksamkeit und Anteilnahme, Achtsamkeit, die Kunst, einfach da zu sein, anwesend mit allen Sinnen, mit offenen Ohren, aber auch mit offenen Augen, mit Augen, die nicht lügen können und in denen unser Gegenüber ablesen kann, wie präsent wir sind, das alles sind "not-wendende" Voraussetzungen für professionelles Helfen. Was einen Menschen ermutigt, sich zu öffnen, ist in erster Linie die Präsenz, die wir ausstrahlen, wenn wir mit ihm ein Gespräch beginnen. Darum geschieht es immer wieder, dass in einem Gespräch das, was sich Menschen "von der Seele reden" wollten, nicht zur Sprache kommen konnte und auch umgekehrt, dass sie nach einem Gespräch über sich selbst ganz verwundert sind, weil sie nichts von dem, was sie dann doch sagen konnten, zu sagen vorgehabt hätten. Ein gutes Gespräch können beide Seiten wollen, es ist aber noch keine Garantie, dass es auch stattfindet. Gespräche kann man planen, ihren Ausgang aber muss man sich "schenken" lassen. Wie sehr dieses Geschenk gelingt, hängt wesentlich davon ab, wie "präsent", wie "geistesgegenwärtig" beide Partner miteinander umzugehen verstehn.Nur die Ohren des Herzens vermögen wirklich zu hören und den Klang der Seele zu vernehmen. Dazu bedarf es einer Kultur der Behutsamkeit, eine Achtsamkeit, die keine Methode und keine Verhaltensregel vorschreiben kann, die nur funktioniert, wenn sie nicht nur funktioniert. Ein Jiddu Krishnamurti (1895-1986) zugeschriebenes Wort lautet: "Es gibt keine Methode, es gibt nur Achtsamkeit."


aus Arnold Mettnitzer, Klang der Seele S 11 - 13

Rückblick

SCHRIFT-ZEICHEN
Kleine Zeitung | 14.04.2024
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