KLEINE ZEITUNG vom 18.12.2016, Seite 2-3: INTERVIEW MIT ARNOLD METTNITZER
Herr Mettnitzer, der vierte Teil unserer Adventserie steht unter dem Motto folgender Liedzeile: „Macht hoch die Tür, die Tor' macht weit“. Es geht so weiter: „Es kommt der Herr der Herrlichkeit, ein König aller Königreich, ein Heiland aller Welt zugleich.“ Was fällt Ihnen spontan vor allem zur ersten Liedzeile ein?
Da muss ich an eine Zeile in Peter Handkes „Langsame Heimkehr“ denken: Dort ruft Sorger, die Hauptfigur: „Ich möchte nicht zugrunde gehen. … Ich will kein im Jammer Verschwindender, sondern ein mächtiger Klagekörper sein. Mein Ausruf ist: Ich brauche dich! Aber wen rede ich an? Ich muss zu Meinesgleichen! Aber wer ist Meinesgleichen? In welchem Land? In welcher Stadt?“
(vgl. Peter Handke, Langsame Heimkehr. Erzählung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1979, Seite 140-141).
Den Advent erlebe ich immer wieder ganz bewusst als einen solchen Ruf, als Ausschau und Frage, ob es auch für mich in meiner kleinen Welt jemanden gibt, auf den zu warten und zu hoffen es sich lohnt!
Ein vielleicht gewagter Vergleich, aber stellen wir ihn trotzdem an: Die Zeiten rund um die Geburt Jesu waren unruhig, von Endzeitstimmungen geprägt, angstvoll auch. Dem Alten wurde nicht mehr getraut, das Neue erhofft, ein „Erlöser“ herbeigesehnt. Ist diese Gefühls- und Stimmungslage nicht mit unserer Gegenwart vergleichbar?
Den Vergleich finde ich überhaupt nicht gewagt, er passt genau und ist hochaktuell. Zeit seines Lebens hat der Mensch nach nichts eine größere Sehnsucht als nach Seinesgleichen. Deshalb schlummert in jedem Menschen der Ruf nach einem „Heiland“, nach einem, der kommt und ihn anrührt und ermutigt, der ihn nicht nur nicht kalt lässt, sondern ihn vielleicht sogar heilt, zumindest aber ein wenig tröstet und mit der Welt versöhnt. Darum sagen ja Menschen auch immer wieder zueinander: „Ich verstehe mich mit Dir so gut, das heißt ja wohl: Wenn Du da bist, verstehe ich mich selber besser! So verstehe ich auch den Ruf in einem der ältesten Adventlieder: „O, Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf!“ - Ganz egal, woher! Hauptsache, da kommt einer, der sich dem Menschen als Mensch erweist!
„Weihnachten ist ein Fest gegen die Finsternis der Herzens und damit ein Fest gegen die Sprachlosigkeit“, schreiben Sie in Ihrem Buch „Was ich glaube“. Aber braucht es nicht mehr als ein Weihnachtsfest, um die gegenwärtige Finsternis in den Herzen der Menschen zu erhellen?
Im Grunde ist das die zentrale Frage aller Herbergsuchenden. Und Herbergsuchende sind wir alle. Wir sind Gäste auf dieser Erde, Wandernde und Suchende! Jeder Mensch will ankommen, wahrgenommen, aufgenommen, willkommen geheißen, verstanden und geliebt werden. Nach nichts hat ein Mensch deshalb größere Sehnsucht als nach einem anderen Menschen, der ihm die Möglichkeit schenkt, selbst von anderen als Mensch angenommen zu werden. Jeder unserer Freunde war uns ursprünglich fremd. Freundschaften schließen zu können setzt voraus, das Fremde überwinden zu wollen und das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Davon leben wir Tag für Tag weit über Weihnachten hinaus.
Deshalb sind die besten Weihnachtsgeschichten Begegnungsgeschichten, Geschichten, die sich um die Werke der Barmherzigkeit drehen, wir könnten sie auch Geschichten der Warmherzigkeit nennen. Denn die Kälte im Herzen des Menschen ist ja an keine Jahreszeit gebunden und sie schmerzt vielleicht gerade dann besonders, wenn es draußen sonnig, warm und heiter ist!?
Ich kenne Menschen, die sich zur Weihnacht berührende Geschichten aus dem Internet holen und sich dann wundern, dass keine Weihnachtsstimmung aufkommt. Die besten Advents- & Weihnachtsgeschichten finden sich im „Internet des eigenen Herzens“!
Es geht in diesem Lied auch darum, jemanden, in diesem Fall den Messias, willkommen zu heißen. Es geht also im weitesten Sinn auch um Willkommenskultur. Ein Wort, das sehr aktuell und umstritten ist. Wie kultiviert sind wir im Willkommenheißen Fremder?
Als Jugendseelsorger in Kärnten war ich verantwortlich für ein Jugendfest auf den Plätzen der Klagenfurter Innenstadt. 10.000 junge Menschen aus Kärnten, Osttirol, Salzburg, der Steiermark, aus Italien und Slowenien sind da zusammengekommen und haben unter dem Thema „Jeder Mensch ist Ausländer, fast überall!“ ein Begegnungsfest gefeiert. Willkommenskultur findet dort statt, wo Achtsamkeit und Anteilnahme Misstrauen und Argwohn überwinden. Wer das probiert, merkt bald, dass es auch funktioniert. Mehr noch: Das belebt, bereichert und lässt Herzen höherschlagen.
Glauben Sie, dass uns Katholiken durch die Erosion unseres Glaubens auch jene Tugenden zusehends abhandenkommen, die Sie in diesem Buch erwähnen: Wohlwollen, Akzeptanz, Wertschätzung, Achtsamkeit?
Auf jeden Fall! Aber das ist in erster Linie nicht das Problem der Katholiken allein, sondern das Problem einer Gesellschaft, deren innere Werte hohl geworden und zum Lippenbekenntnis verkommen sind. Kirchlicher und auch gesellschaftlicher Verwaltungsgeist, der „Dienst nach Vorschrift“ macht, darf sich nicht wundern, dass er dabei die Bedürfnisse in den Herzen der Menschen übersieht. Schon vor Jahrzehnten hat deshalb die evangelische Theologin und Mystikerin Dorothee Sölle darauf hingewiesen, wie sehr die satte westliche Welt nach neuen Werten hungert. Nach „Toleranz“ zum Beispiel, die es auszuhalten vermag, dass andere Menschen andere Erfahrungen machen, andere Kulturen andere Schwerpunkte setzen und daraus andere Schlüsse ziehen. Oder auch nach „Humor“, nach jener inneren Bereitschaft, alles Ernste und Schwere in engagierter Gelassenheit auch einmal aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten. Und nicht zu vergessen die so selten anzutreffende Tugend von „Zivilcourage“, die man ja auch oder auch „heiligen Zorn“ nennen könnte, der an- und auszusprechen vermag, was endlich ins Wort gebracht werden muss. In unseren täglichen Wortmeldungen finden sich solche Tugenden eher selten. Stattdessen beantworten wir uns Fragen, die niemand stellt und lassen das, was uns unter den Nägeln brennt unbeantwortet. So dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass unser Miteinander-Reden über Worthülsen nicht hinausfindet, geschweige denn ins Herz des anderen Menschen findet.
Zurück zur Willkommenskultur. Zigtausende Menschen sind auf Herbergssuche in Europa. Anfangs waren die Türen noch hoch und die Tore breit. Jetzt sind Türen und Tore zunehmend verschlossen. Und wohl auch die Herzen. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe für diese buchstäbliche „Verschlossenheit“?
Das lateinische Wort: „porta patet – cor magis“ besagt, dass mein Herz noch weiter offensteht als meine Tür. Österreich war und ist immer noch eine Großmacht an Hilfsbereitschaft. Wir haben es aber in den letzten Monaten miterleben müssen, wie nach und nach Europas Türen zugemacht wurden. Und die immer lauter werdende Rede von Europa als „Festung“ tut weh! Aber ich kann nicht glauben, dass wir hier an einem Schlusspunkt angekommen sind. Und das auch deshalb nicht, weil ich fast täglich auch Ermutigendes höre. Von Johann Pingitzer aus Zurndorf bei Nickelsdorf im Burgenland zum Beispiel, der bekannt war für seine ablehnende Haltung den Flüchtlingen gegenüber bis er vor seinem Haus zunächst drei und dann nach und nach dreihundert Flüchtlingen gegenübersteht, die ihn schlicht und ergreifend nur um Wasser bitten. Heute darauf angesprochen sagt er: „Es waren die Augen der Kinder, die mir das Herz geöffnet haben!“ In diesem Sinne gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass geschlossene Türen wieder aufgehen und zunächst versteinerte Herzen wieder weich werden können.
Sie zitieren den Autor Michael Schmidt-Salomon, der ein „alternatives Glaubensbekenntnis“ verfasst hat. Die zweite Strophe lautet so: „Ich glaube an die Evolution des Wissens und des Mitgefühls, der Weisheit und des Humors“. Ein Zyniker würde da sagen: Da muss man schon viel Humor haben, um daran zu glauben!?
Humor ist wahrscheinlich die beste Therapie, um aus einseitigen Wahrnehmungen herauszufinden. Es waren nicht selten „Narren“, die mit ihren verrückten Ideen neue Perspektiven eröffnet haben. Sokrates, Jesus, Hildegard von Bingen, Franz von Assisi, Gandhi, Mutter Teresa etc. sie alle und viele andere mehr wurden zunächst als „Verrückte“ wahrgenommen. Nach und nach ist es ihnen gelungen, die engstirnig einseitige Perspektive der Menschen in ihrer Umgebung im besten Sinn des Wortes zu „ver-rücken“. Im Blick auf die herausfordernden Probleme in unserer Welt erlebe ich ziemlich oft den Ruf nach Patentlösungen. Populisten propagieren Losungen, wir aber brauchen Lösungen, hat kürzlich Jean-Claude Juncker gemeint!
Wo in unseren Welterklärungsmodellen die „Monokausalitis“ regiert, wo wir also den einen Grund, den wir zu verstehen glauben, so engstirnig vor uns hersagen, dass wir blind werden für Alternativen und für die bunte Palette anderer Möglichkeiten, dort könnte uns der Humor nicht nur als Tugend, sondern geradezu als Therapie zu Hilfe kommen, die Welt und das eigene Leben auch aus anderer Perspektive verstehen zu wollen. Deshalb ist Humor nicht in erster Linie eine Methode guter Unterhaltung, sondern die Kunst differenzierter Wahrnehmung.
Eine weit verbreitete Geschichte bringt das oben genannte Adventlied in Zusammenhang mit einem gewissen Herren Sturgis, der einen Weg zur Kirche, der vom Armenhaus über sein Grundstück führte, abgesperrt hatte. Der Königsberger Pfarrer Georg Weissel, der den Liedtext im Jahr 1623 geschrieben hat, hat diesen Herrn Sturgis durch das Singen des Liedes angeblich dazu bewogen, die Sperre seines Grundstücks aufzuheben. Was ist Ihrer Meinung nach nötig, um die diversen Sperren in unseren Köpfen und Herzen aufzuheben?
Unsere Gedanken sind wirkende Mächte. Gute Gedanken heilen. Schlechte Gedanken trüben unsere Wahrnehmung. Schon Zarathustra weist darauf hin, dass unsere Gedanken zu Worten werden und unsere Worte zu Taten und schlussendlich aus unseren Taten sich unser Charakter formt. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Art, wie ich über meinen Nachbarn denke auf diesen einen nachhaltigen Einfluss ausübt und diesen zu verändern vermag. Hier handelt es sich um ein menschliches Vermögen, von dem vermehrt Gebrauch zu machen eine wunderbar lohnende Erfahrung sein kann. Die Neurobiologen sagen uns, dass das menschliche Hirn und auch sein Herz so lang jung bleibt, so lang es sich von irgendetwas Neuem, So-noch-nie-Dagewesenem berühren und begeistern lässt. Ganz in diesem Sinn lautet eines meiner Lieblingsgedichte:
Ich lasse mich gern / aus der Fassung bringen / denn immer gerate ich dann / in eine andere
Vgl. Wernfried R. Hübschmann, EINVERSTÄNDNIS, in: Hans Kruppa, H. (1984). Gedichte gegen den Frust. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.
Es ist derzeit viel die Rede vom Verlust der Mitte. Der politischen Mitte, der sozialen Mitte. „Mittig“ zu sein, in sich zu ruhen, ist auch das Bestreben vieler Menschen – und eine schwere Übung. Was sagt der Psychotherapeut Mettnitzer zu dieser oft verzweifelten Suche nach der verlorenen Mitte?
Darauf gibt schon die griechische Mythologie eine stimmige Antwort. Dädalus & Ikarus entkommen dem Labyrinth des Königs Minos auf Kreta durch ihre Klugheit, mit der sie sich Flügel bauen und in die Freiheit fliegen. Dieser Flug in die Freiheit benötigt aber ein feines Gespür für die richtige Flughöhe: Dem Wasser nicht zu nahe, damit die aufsteigende Feuchtigkeit nicht die Flügel zu schwer macht, der Sonne nicht zu nahe, damit das Wachs nicht schmilzt, das die Federn der Flügel zusammenhält. Der erfahrene Dädalus findet so seinen Weg ins Leben, Ikarus hingegen vergisst im Rausch der Freiheit die Gesetze der Natur, kommt der Sonne zu nahe und stürzt ins Meer.
Das bedeutet aber auch: Genau genommen suchen wir bei allem, was wir unternehmen, nicht die Mitte, schon gar nicht das billiges Mittelmaß. Was wir suchen, ist das Unsrige, das Unverwechselbare, Einmalige, Authentische, Unwiederholbare. Das suchen wir. Und wenn wir es in einem Menschen gefunden zu haben meinen, dann sagen wir von ihm, wir hätten ein „Perle“ oder auch „eine Seele von Mensch“ gefunden, einen, den es so nur ein einziges Mal auf dieser Welt gibt. Nach nichts hat ein Mensch mehr Sehnsucht als nach einem solchen Menschen.
Bleiben wir beim Psychotherapeuten. Wir lautet Ihre Diagnose bezüglich des „Patienten Österreich bzw. Europa“ - und wie Ihr Therapieansatz? Oder gibt es diesen Patienten gar nicht und wir sind eh alle gesund, nur ein wenig gereizt und verkühlt?
Am 25. Juli 1930 notiert Andre Gide ein paar wunderbare Sätze in sein Tagebuch: „Es gibt einen Gesundheitszustand, der uns nicht erlaubt, alles zu verstehen. Vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten; ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere oder führt uns doch davon weg, so dass wir uns nicht mehr darum kümmern. Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterlichen Gesundheit erfreuen, noch keinen getroffen, der nicht nach irgendeiner Seite hin ein bisschen beschränkt gewesen wäre; wie solche, die nie gereist sind, und ich erinnere mich, dass Charles-Louis Philipp die Krankheiten ‚die Reisen der Armen‘ nannte. Die noch nie krank waren, sind des Mitgefühls für eine ganze Anzahl Elendszustände nicht fähig.“
André Gide, Aus den Tagebüchern 1889 – 1939, ins Deutsche übertragen und ausgewählt von Maria Schäfer-Rümelin, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main – Wien – Zürich 1965, Seite 312 - 313
Gesundheit und Krankheit sind so verstanden fließend-dynamische Zustände, die in ihrer je eigenen selektiven Wahrnehmung nie das ganze Feld des Lebendigen ausleuchten, sondern immer „ein bisschen beschränkt“ bleiben, auf einem Auge blind sozusagen. Das Leben ist so betrachtet ein ständiges Pendeln zwischen Gesundheit und Krankheit. Auf der einen Seite steht das Leben, auf der anderen Seite des Pendels steht der Tod. Darum kommt ein Mensch mit seinem Wunsch nach einer Diagnose nie ans Ende. Oder, um es abschließend mit Krishnamurti zu sagen: „Es gibt keine Methode! Es gibt nur Achtsamkeit!“